III. Sagen von Tieren, die allein leben.

[210] 1. Aus Gaza.


An einem Ort, wo die Tiere sich versammelt hatten, stand ein Baum voll köstlicher Früchte; von dem durfte nur ihr König, der Elefant, essen. Aber als sie eines Morgens aufwachten, sahen sie, daß von den Früchten gegessen worden war. Sie fragten einander: »Wer hat denn das getan?« Und wußten es nicht. Am Abend, als sie schlafen gehen wollten, sagte der Hase zu ihnen: »Damit ihr nicht sagen[210] könnt, daß ich es gewesen bin, der die Früchte gegessen hat, so bedeckt mich doch, bitte, mit einem Holzgefäß und laßt mich erst morgen früh, wenn ihr aufwacht, wieder frei«.

Sie willigten ein und sperrten ihn unter ein Holzgefäß.

Mitten in der Nacht, als alle schliefen, erhob sich der Hase, kam unter seiner Bedeckung hervor und aß von den Früchten des Königs. Dann nahm er die Kerne und verbarg sie in den Achselhöhlen des Elefanten. Hierauf verkroch er sich wieder unter sein Gefäß. Bei Tagesanbruch rief der Hase: »Nun laßt mich wieder heraus«, und sodann fragte er die Tiere: »Wißt ihr nun, wer die Früchte des Königs gegessen hat?« »Nein«, antworteten sie, »wir wissen es nicht«. Da sprach der Hase: »Der König möge doch befehlen, daß der, bei dem man die Kerne findet, getötet werden soll, auch wenn es seine eigenen Räte wären. Ja, wenn es der König selber wäre.« Die Tiere riefen: »Du hast recht«. Der Hase fuhr fort: »Nun wollen wir die Probe machen und allesamt über den Graben springen. Ich fange an«, und er setzte hinüber, und alle sprangen ihm nach. Als aber der Elefant springen wollte, fielen ihm die Kerne aus den Achselhöhlen. Da rief der Hase: »So tötet ihn, wie ihr es beschlossen habt.« Und sie ergriffen den Elefanten und töteten ihn. Ein paar Tage darauf kamen die Tiere überein den Ort zu verlassen und in eine andere Gegend zu ziehen. Beim Aufbruch aber sagte der Hase: »Laßt mich etwas zurückbleiben, ich hinke und kann nicht so schnell gehen.« Sie willigten ein, und der Hase folgte ihnen und sang: »Hoho, hoho! sie haben den Elefant getötet und denken, er habe die Frucht gegessen, aber ich war's, der sie gegessen hat. Oho! oho! Ich habe sie getäuscht. Sie haben ihren König getötet!«

Eins der Tiere hörte das und fragte die andern, ob sie auch den Gesang des Hasen gehört hätten. »Nein«, antworteten sie, »wir haben ihn nicht gehört.« – »Ei, so muß sich eins von uns am Rande des Weges verbergen und horchen.« – Das geschah, und wieder ließ sich das Lied vernehmen: »Oho, oho! Sie haben den Elefanten getötet«. Schnell lief das Tier zu seinen Gefährten und sprach zu ihnen: »Der Hase ist es, der vom Baum des Königs gegessen hat.« Die Tiere sprachen: »So wollen wir hier auf ihn warten und ihn packen, wenn er vorbeikommt«. Sie wollten sich des Hasen bemächtigen, aber er entschlüpfte ihren Händen und lief davon; er fand das Loch eines Ameisenlöwen und verbarg sich darin.

Als sie zu dem Loche gekommen waren, berieten die Tiere, was sie wohl tun könnten, um den Hasen zu fassen, und sprachen: »Wir wollen einen gegabelten Zweig nehmen und eine Harpune daraus schneiden; damit werden wir ihn fangen können.« Sie schnitten also einen Zweig zurecht und stachen in das Loch. Die Harpune erfaßte den Hasen. Aber der Hase war schlau und fing an zu lachen und rief: »Ihr habt mich ja gar nicht fangen können«. Da ließen sie los und fingen von neuem an; diesmal hakte sich die Harpune in eine Baumwurzel. Sogleich fing der Hase an zu jammern: »Laßt mich, laßt mich, ich werde schon von selbst herauskommen«. »Hört ihr?« sprachen die Tiere, »jetzt ziehet, was ihr könnt!« Sie zogen aus Leibeskräften; und die Harpune zerbrach. Diesen Versuch wiederholten sie noch einmal, aber umsonst.

Da gingen sie zu Rate, was sie nun beginnen sollten. Und eins von ihnen antwortete: »Hier ist der Federstrauß eines Kriegers, den wollen wir in die Erde stecken, damit der Hase sich fürchtet, aus seinem Loche herauszukommen; denn er wird glauben, daß immer noch einer von uns da ist.« Der Vorschlag gefiel. Sie pflanzten einen Federstrauß in die Erde, und als der Hase fortgehen wollte, sah er ihn und dachte, die Feinde wären immer noch da.

[211] So blieb er mehrere Tage in seinem Loche, und jedesmal, wenn er ausgehen wollte, war der Federstrauß noch da. Der Hase verlor alle Hoffnung und klagte: »Ich bin verloren; was bleibt mir nun übrig?« So blieb er dort sehr, sehr lange.

Endlich kam einmal ein starker Wind auf, und der Federstrauß wurde weggeweht. Da ging der Hase heraus und sah nun, daß die Tiere schon längst fort waren, und daß das, wovor er sich gefürchtet hatte, nur ein einfacher Federstrauß war. Er nahm ihn und verbrannte ihn. Dann ging er weg und sprach bei sich: »Ich will nicht mehr zu den anderen Tieren gehen, sie werden mich töten«. Darum lebt der Hase noch heute immer allein.


  • Literatur: Jacottet, Revue des trad. pop. 10, 383.

2. Aus Sierra Leone.


Vor langer Zeit lebten viele Tiere in einem Dorfe zusammen, auch die Spinne und der Hase waren darunter. Eines Tages ging die Spinne zur benachbarten Stadt und kaufte sich ein Gewehr und Pulver. Die anderen Tiere aber kannten noch keine Gewehre, sie lebten ja so still für sich hin, jedes in seinem Hause. Als nun die Spinne am Abend nach Hause kam, verkündete sie laut, daß sie ein Mittel gegen böse Geister habe und alle töten wolle, die von ihnen behext seien. »Niemand darf diese Nacht aus dem Hause gehen; das Mittel muß die ganze Nacht durch wirken, und ich kann nicht dafür, wenn jemand getötet wird.«

Dies war allen Tieren recht, sie sagten: »Ja, ja, laß die bösen Geister nur umkommen, es sind gar so viele hier!«

Als nun die Nacht hereinbrach und alles still war, machte sich die Spinne auf, lud ihr Gewehr und kroch zum Hause des Rehes. Dies war das dümmste von all den Tieren. Und richtig, nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür, und das Reh wollte hinaustreten, da drückte die Spinne los – bum! Das Reh fiel hin und war tot. Dann lief die Spinne in ihr Haus, verschloß die Tür und rief: »Ha, ha, hab ich euch nicht gesagt, es ist ein böser Geist in der Stadt? Das Reh sogar war behext!« Als die Tiere den Lärm hörten, dachten sie, es wäre das Mittel gegen die Geister, das auf diese Weise wirkte. Und sie wunderten sich, woher die Spinne es wüßte, daß es das Reh war; sie war ja in ihrem Hause und hatte die Tür zugeschlossen. Und dann freuten sie sich, daß das Mittel so wunderkräf tig sei. »Möge es uns von allen Geistern befreien!«

Die Spinne aber schleppte ihr Opfer ins Haus und kochte es in einem großen, großen Topfe. Und in der nächsten Nacht aß die ganze Spinnenfamilie davon und wurde satt. In der übernächsten aber machte sich die Spinne wieder auf den Weg. Diesmal ging sie zur Wohnung des Elefanten und hatte noch einmal so viel Pulver geladen, damit es auch sicher für den großen Elefanten genug sei. Als nun der Elefant bloß einmal zum Fenster hinausguckte, legte die Spinne an, und – bum! schoß sie ihn tot. Schnell lief die Spinne wieder in ihr Haus und rief wieder bei verschlossener Tür, der Elefant sei tot. Dann aßen die Spinnen ein paar Tage am Elefanten, und so lange hörte man nichts mehr von bösen Geistern. Aber als er aufgegessen war, ging die Spinne zum Leoparden, schoß ihn, und alles geschah wie in den anderen Nächten. So trieb sie es lange Zeit, und die Zahl der Tiere nahm mehr und mehr ab. Eines Tages aber, als die Spinne fortgegangen war, lief das schlaue Moschustier in ihr Haus, um sich einmal das wunderbare Mittel anzusehen. Es sah sich um, erblickte das Gewehr und den Pulverbeutel dabei und trug beides mit fort.

Wie nun die Spinne nach Hause kam und nichts mehr vorfand, brach sie in[212] lautes Wehklagen aus und rief: »Ich bin verloren, ich bin verloren!« Erregt legte sie sich des Abends nieder, aber sie konnte keinen Schlaf finden. Sie stand wieder auf und lief zur Tür hinaus. O weh! Da stand das Moschustier schon auf der Lauer! Doch vor lauter Übereifer verfehlte es sein Ziel und schoß in die Luft. »Wer schießt da?« rief die Spinne. »Du sagst, du treibst die Geister weg, aber du schießt alle Tiere tot!« antwortete das Moschustier. »O, sei still«, sagte die Spin ne. »Laß uns lieber gemeinschaftlich auf Beute ausgehen!« Das war dem schlauen Moschustier denn auch recht. Nun waren aber die Tiere in Gefahr, gänzlich ausgerottet zu werden. Da beschlossen sie, nicht länger im Dorfe beisammen zu bleiben, sondern sich nach allen Richtungen hin zu zerstreuen. So kamen Spinne und Moschustier um ihre Beute, die Tiere aber leben noch heute einzeln in Wald und Feld.


  • Literatur: Ward-Cronise, Cunnie Rabbit.

3. Sage der Wichita-Indianer.


Die Schildkröte hat einen Büffel getötet. Der Präriewolf bietet seine Hilfe beim Zerschneiden des Fleisches an, und dafür wird ihm die Hälfte bewilligt. Als sie fertig sind, schlägt der Präriewolf einen Wettlauf um das Fleisch vor. Die Schildkröte verliert, und der Präriewolf läßt sie beim Fleisch, um es zu bewachen, während er Frau und Kinder holt. Das Eichhörnchen kommt und schlägt vor, dem Präriewolf einen Streich zu spielen. Es trägt alles Fleisch und die Schildkröte selbst auf einen Baum. Als der Präriewolf kommt, sieht er das Spiegelbild im Wasser, taucht und ertrinkt. Die Schildkröte und das Eichhörnchen sagen den Kindern des Präriewolfs, daß sie ihn ertränkt haben, das Eichhörnchen schüttet heiße Suppe über sie, und sie laufen in allen Richtungen davon. »Wäre nicht das Eichhörnchen gewesen, so würden die Präriewölfe noch heute beieinander bleiben, aber weil das Eichhörnchen sie auseinander getrieben hat, tun sie es nicht mehr. Selbst die Jungen trennen sich, sobald sie das nötige Alter erreicht haben, und bleiben nicht zusammen


  • Literatur: Dorsey, Wichita Myths, 345 (274).

4. Aus Rumänien.


Die Eichelhäher hatten ursprünglich ihren eigenen König. Als sie einmal mit einer Streitsache vor ihn kamen und der König Recht sprach, wollten sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein und schrien unaufhörlich. Da verfluchte sie der König und wies sie alle von sich weg. Seitdem sieht man nie mehrere Eichelhäher zusammen.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 2, 72.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 210-213.
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