III. Aus Amerika.

[35] Erweiterung durch das Motiv des glücklichen Entkommens.


9. Märchen nordamerikanischer Neger.


a) Einst waren viele Tiere beisammen, der Hase, der Tiger, die Eidechse und der Elefant, die Ziege und das Schaf, die Ratte und das Heimchen, und sie wollten einen Brunnen graben. Als sie aber den Hasen fragten: »Willst du uns helfen, den Brunnen zu graben?« sagte er: »Nein«, und als sie ihn fragten: »Was wirst du denn tun, wenn du durstig bist?« antwortete er: »Dann hole ich mir euer Wasser und trinke es.« Sie fragten auch: »Willst du denn das Feld mit uns bestellen?« aber er sagte: »Nein, und wenn ich hungrig bin, so hole ich mir etwas zu essen.« Also gingen alle Tiere fort, um erst den Brunnen zu graben und dann das Feld zu bestellen.

Als der Brunnen fertig war, kam auch der Hase bald heran. Die Tiere hatten aber die Eidechse zurückgelassen, daß sie den Brunnen bewache. Als der Hase die Eidechse sah, fragte er sie: »Eidechse, wollen wir einmal sehen, wer am meisten Geräusch in einem Reisighaufen machen kann?« Der Eidechse war es recht, und der Hase fuhr fort: »So geh du in diesen großen Reisighaufen hier, und ich gehe dorthinüber in den anderen Reisighaufen.« Die Eidechse ging hinein, und während sie damit beschäftigt war, das Reisig in die Luft zu werfen, holte sich der Hase einen Eimer Wasser – und weg war er.

Als nun der Elefant und all die anderen Tiere vom Felde kamen, fragte der Elefant: »Eidechse, ist der Hase hier gewesen und hat Wasser geholt?« Die Eidechse antwortete: »Ich kann nichts dafür. Er sagte mir, ich solle in den Reisighaufen gehen, da wollten wir sehen, wer am meisten Geräusch machen könne.«

Am nächsten Tage wurde die Hyäne dagelassen, um den Brunnen zu bewachen. Bald darauf kam auch der Hase und fragte die Hyäne gleich: »Hyäne, wollen wir einmal sehen, wer am schnellsten laufen kann?« Der Hyäne war es recht, und der Hase sagte: »Dann laufe du dort, und ich laufe auf dieser Seite.« Gesagt, getan. Die Hyäne lief fort, und der Hase holte sich seinen Eimer voll Wasser – und weg war er.

Als nun der Elefant wiederkam, fragte er die Hyäne: »Ist der Hase hier gewesen und hat Wasser geholt?« Die Hyäne antwortete: »Er sagte, wir wollten einmal sehen, wer am schnellsten laufen könne, und kaum war ich ein Stück gelaufen, da holte er sich das Wasser, und weg war er.« Darauf sagte der Elefant nur: »Ich weiß schon, wie ich ihn fangen werde!«

Er ließ also eine große Teerpuppe machen, die wurde an den Brunnen gestellt, und die Tiere gingen fort. Als der Hase kam, sah er die Gestalt und rief: »Ah, heute haben sie wohl meinen Liebling dagelassen, um den Brunnen zu hüten? Komm, mein Liebling, ich will dir einen Kuß geben.« Da küßte er die Teerpuppe und blieb mit dem Munde an dem Teer hängen. »Laß mich los,« rief er, »sieh diese große, große Hand hier: wenn ich dich damit schlage, bist du tot!« Aber als er nach ihr schlug, blieb die Hand kleben. »Laß mich lieber los,« rief er wieder.[35] »Sieh diese große, große Hand: wenn ich dich damit schlage, bist du tot!« Aber auch mit der zweiten Hand blieb er kleben. Da rief er: »Sieh doch diesen großen, großen Fuß hier! Mein Vater sagt immer, wenn ich jemand mit meinem großen, großen Fuß schlage, dann ist er gleich tot!« Dabei schlug er mit dem einen Fuß, der blieb hängen, dann mit dem zweiten, dem ging es nicht besser. Da hing der Hase! Hing an der Teerpuppe!

Die Hyäne war die erste von den Tieren, die zurückkam. Als sie den Hasen sah, rief sie: »Heute haben wir ihn, heute haben wir ihn!« und lief gleich zurück auf das Feld, um es dem Elefanten zu sagen: »Elefant, heut haben wir ihn!« Da machten sich alle Tiere auf den Rückweg, um den Hasen zu holen. Sie wollten ihn töten, sie wußten nur noch nicht recht, wie. Da sagte der Hase zu ihnen: »Wenn ihr mich ins Meer werft, das schadet mir nichts, aber wenn ihr mich ins Gras werft, dann tötet ihr mich und meine ganze Familie.« Als die Tiere das hörten, nahmen sie den Hasen und warfen ihn ins Gras. Der Hase sprang in die Höhe und lief fort. »Fangt mich doch!« rief er, aber sie konnten ihn nicht erjagen.

An diesem Tage setzten sich die Tiere alle zusammen zum Essen hin, und das ganze Haus war voll von Tieren jeder Art. Da kletterte der Hase auf das Dach des Hauses, machte ein großes Loch in das Dach und sang für sich hin: »Nun, Feuer, gehe aus!« Darauf warf er einen großen Erdklumpen in das Haus hinunter. Da liefen alle Tiere hinaus in den Busch und wurden wild. Also ist es des Hasen Schuld, daß es jetzt wilde Tiere gibt.


  • Literatur: Harris, Nights with Uncle Remus.

b) Im wesentlichen übereinstimmend: Edwards, Bahama Songs and Stories p. 73.

c) Breitere, um viele Einzelheiten vermehrte Ausführung des im »Uncle Remus« vorliegenden ursprünglichen Wortlautes bei A. Fortier, Louisiana Folk-Tales p. 98–109 (= Fortier, Bits of Louisiana Folk-Lore. Transactions of the Modern Language Association of America 3, 1887 [Baltimore 1888], 102).


10. Creolisches Märchen aus Louisiana.


Vor langer Zeit ging Gevatter Hyäne einmal zu seinem Nachbar, dem Hasen, und der Hase hatte kein Tröpfchen Wasser mehr zu trinken. Da sagte Hyäne zum Hasen: »Ich habe auch kein Wasser mehr. Wenn du mit mir kommen willst, wollen wir einen Brunnen graben.« Der Hase schüttelte den Kopf: »Nein, Hyäne, früh am Morgen trinke ich den Tau auf dem Grase, und tagsüber trinke ich die Fährte der Kühe [d.h. das Wasser, welches sich in den Fußeindrücken der Kühe gesammelt hat], wenn ich Durst habe.« Also grub Gevatter Hyäne seinen Brunnen allein. Als er nun am frühen Morgen Wasser holen wollte, sah er die Spur des Hasen ganz dicht am Brunnen. Er kratzte sich den Kopf und rief: »Bruder, dich werde ich fangen.«

Er lief, holte sich sein Werkzeug und machte eine große Puppe aus Lorbeerholz. Er teerte sie, bis sie schwarz wurde, wie eine Negerin von Guinea. Als die Sonne sank, lief Hyäne zum Brunnen, um seine Puppe dort aufzustellen. In der Nacht schien der Mond hell, als der Hase mit seinem Kübel kam, um Wasser zu holen. Als er die kleine Negerin sah, blieb er stehen, bückte sich und sah sie genau an.

»Was für ein Tier ist das?«

Er ruft sie an, die kleine Negerin rührt sich nicht, antwortet nicht. Der Hase kommt ein bißchen näher, ruft noch einmal, die kleine Negerin antwortet[36] nicht. Er wird mutig und tritt ganz dicht an den Brunnen. Er sieht in den Brunnen hinein, die kleine Negerin auch. Der Hase fängt an, zornig zu werden.

»Kleine Negerin, wenn du in den Brunnen guckst, hau' ich dir an die Kehle!«

Er bückt sich und bemerkt, wie das Mädchen ihn ansieht. Er hebt seine rechte Hand und schlägt.

»Patsch.« Seine Hand klebt.

»Laß mich los, kleine Negerin, oder ich haue dir auf die Augen mit der anderen Hand.« Er haut.

»Klatsch.« Die linke Hand klebt auch. Der Hase hebt seinen rechten Fuß.

»Kleine Kongo-Negerin, siehst du diesen Fuß? Wenn ich dich trete, so wirst du glauben, daß ein Pferd nach dir ausgeschlagen hat.« Er tritt.

»Bumm.« Der Fuß klebt. Der Hase hebt den anderen Fuß. »Siehst du diesen Fuß hier? Wenn ich dich damit schlage, wirst du glauben, ein Donnerschlag habe dich getroffen.« Er tritt.

»Bamm.« Auch dieser Fuß klebt.

Der Hase hielt seine Puppe sehr fest!

»Bei der heiligen Guinée! Ich habe schon viele Leute mit meiner Stirn geschlagen. Wenn ich dich schlage, breche ich deinen Kopf in kleine Stücke.« Er nimmt alle Kraft zusammen und schlägt ihren Kopf mit Gewalt. – O, er klebte gut!

Als die Sonne aufgegangen war, kam Hyäne, um sein Wasser zu holen.

»He, he, Bruder Hase, was machst du da? Ich meinte, du hättest mir gesagt, du tränkest den Tau vom Grase und das Wasser aus der Fährte der Kühe. Ich werde dich strafen, daß du mein Wasser trinkst.«

Hyäne läuft in den Wald, sammelt einen großen Haufen trockenes Reisig, zündet es an und holt den Hasen, um ihn zu verbrennen. Er kam mit ihm auf der Schulter an einem Dornenhaufen vorbei, als er seine Tochter Bélédie traf, die vorbeiritt.

»Vater Hyäne, warum wirfst du den elenden Hasen nicht in die Dornen?«

Bruder Hase, so kleinlaut er auch war, spitzt die Ohren.

»Nein, nein, Hyäne, wirf mich nicht in die Dornen, die Stacheln würden mir die Augen zerreißen, wirf mich gleich ins Feuer.«

»Ei, Schelm, du willst nicht in die Dornen? Gut, ich schmeiße dich hinein.«

Der Hase rollt von dem Dornenhaufen herunter und lacht: »Kiak, kiak, kiak, Bruder Hyäne, du konntest mich an keinen besseren Ort werfen. Hier hat mich meine Mutter geboren.«


  • Literatur: Mélusine 1, 1878, S. 497. (Das Eingreifen der Tochter Bélédie ist bei Fortier motiviert. Sie liebt den Hasen und will ihn befreien. Nachher heißt es: Miß Léonine was very glad; she knew where she would meet Compair Lapin that very evening.)

[10 a. (Aus Brasilien.) Eine alte Frau macht eine Wachspuppe. Der Affe bleibt an ihr kleben. Gerber, Journ. of A. Folklore 6, 251. Näheres fehlt.]

Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 35-37.
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