I. Die einfachsten Fassungen.

[163] Außerordentlich zahlreich sind die Aufzeichnungen jüngster Zeit. Wir beginnen mit den einfachen Berichten über die Königswahl oder den Wettflug, die keine weitere Entwicklung der schlichten Fabel kennen, oder eine solche höchstens nur andeuten. Fast ausschließlich geht die Ätiologie auf die Beilegung eines Namens, den das bis dahin unbeachtet gebliebene kleine Vögelchen erhielt, oder aber auf die Erringung der Königswürde durch den winzigen Sieger, und nur einmal11 wird der Name durch die Erzählung erklärt und etymologisch gedeutet.


1. Aus Sizilien.


Der Zaunkönig (riiddu).

a) Die Vögel mußten sich eines Tages einen König wählen, und der Adler, voll Überhebung es zu werden, flog sehr, sehr hoch mit jener Sicherheit, die niemand hätte überbieten können. Unter seinen Flügeln indessen hatte sich der Zaunkönig verborgen, der, sobald er den Adler müde werden sah, aus seinem Versteck[163] schlüpfte und nun seinerseits selbst den Adler noch überflog. Die Vögel aber riefen bewundernd: Der soll unser König sein! ('U re è iddu! = riiddu.)


b) Andere erzählen so:


Der Zaunkönig ließ sich auf dem Kopfe des Adlers nieder, ohne daß der die Last fühlte. Als dann der Adler mit reißendem Flug sich in schwindelnde Höhen hob und zum König proklamiert war, ließ der Zaunkönig sein Stimmchen ertönen und sagte: er sei der König der Vögel, da er noch höher gestiegen sei.


  • Literatur: Pitrè, Usi e costumi 3, 383.

2. Aus Frankreich.


a) Ein weitverbreitetes und sehr altes Märchen erzählt, daß die Vögel sich eines Tages einen König wählen wollten. Die Krone sollte demjenigen bestimmt sein, der sich am höchsten in die Luft erheben würde. Der Adler glaubte, daß er den Preis davontragen würde, doch als er sich ermüdet zum Niederlassen anschickte, schwang sich der Zaunkönig, der sich unter einem der Adlersflügel versteckt hatte, in die Höhe und weit über jenen empor. Er wurde zum König ausgerufen oder vielmehr zum kleinen König der Vögel.


  • Literatur: Rolland, Faune popul. 2, 293. Daher rührt auch das Sprichwort aus der Bretagne: der Adler flieht vor dem Zaunkönig.

b) Revue des trad. pop. 12, 549, wo eine Variante aus der Auvergne mitgeteilt ist, die mit der obigen übereinstimmt.

c) In der Zeitschrift Mélusine 1, 193 f. ist ein bretonisches Lied12 abgedruckt, in dem jeder Vers mit dem Refrain schließt:


Aaux noces du Roitelet,

L'époux est tout petit.


Es werden im Liede die vielen Vögel aufgezählt, die auf des Zaunkönigs Hochzeit kommen wollen und von jedem wird berichtet, womit er den kleinen Gastgeber zu erfreuen gedenkt. Doch im Schlußverse heißt es:


Tous les oiseaup s'y trouvèrent,

Il n'y en eut qu'un seul qui ne vint pas

Aux noces, etc.


Der eine Vogel, der nicht kommen will, ist der Adler, den die Volksüberlieferung als einen Feind des Zaunkönigs betrachtet, weil dieser ihm die Königswürde über die Vögel streitig macht.


d) Eines Tages sprach der Adler zum Zaunkönig: »Armer kleiner Zaunkönig, ich bin groß, stark und kühn. Wenn es mir gefallt, steige ich hinauf in den Himmel, viel höher als die Wolken. Und das ist es, weswegen ich der König der fliegenden Tiere bin. Du jedoch, armer kleiner Zaunkönig, bist nicht größer als eine Bohne und kommst außer Atem, wenn du dich zehn Klafter hoch erhebst. Ich bedaure dich, armer kleiner Zaunkönig.« – »Adler, spare dein Mitleid für andere auf als mich. So klein und schwach ich auch sein mag, ich wette, daß ich höher gen Himmel steigen werde als du.« Der Adler fing an zu lachen: »Armer kleiner Zaunkönig, wetten wir. Was gibst du mir, wenn ich gewinne.« – »Adler, wenn du gewinnst, gebe ich dir mich selbst zum Verspeisen. Verlierst du aber, so schwöre,[164] niemals mir oder den Meinen etwas Böses anzutun.« »Armer kleiner Zaunkönig, es sei beschworen. Komm. Wo bist du?« Der Zaunkönig hatte sich bereits auf den Kopf des Adlers gesetzt. – »Adler, ich bin hier. Los. Hordi! Hoh!« Der Adler erhob sich zu vollem Fluge ohne zu argwöhnen, daß er den Zaunkönig auf seinem Kopfe mit hinauftrage. Zwanzigmal in der Stunde schrie er, daß ihm das Trommelfell platzen wollte: »Wo bist du, armer kleiner Zaunkönig?« – »Adler, ich steige gen Himmel, viel höher als du.« Lange, sehr lange flog der Adler in die Höhe, immer kerzengerade gen Himmel. Zwanzigmal in der Stunde schrie er, daß ihm das Trommelfell platzen wollte: »Wo bist du, armer kleiner Zaun könig?« – »Adler, ich steige gen Himmel, viel höher als du.« Endlich ließ der Adler sich hinab. Ein letztes Mal schrie er, daß ihm das Trommelfell platzen wollte: »Wo bist du, armer kleiner Zaunkönig?« – »Adler, ich steige gen Himmel, viel höher als du.« Ganz bestürzt ließ der Adler sich hinunter ohne zu argwöhnen, daß er den Zaunkönig auf seinem Kopfe emporgetragen hatte. – »Adler, wir sind auf der Erde. Bin ich höher zum Himmel aufgestiegen als du?« »Es ist wahr, armer kleiner Zaunkönig. Du bist höher gen Himmel gestiegen als ich. Fürchte nichts. Was beschworen ist, ist beschworen. Niemals werde ich dir oder den Deinen etwas Böses antun.«


  • Literatur: Bladé, Contes popul. de la Gascogne III, 218 ff.

e) Der Zaunkönig ist ebenso wie der Maikäfer der Rivale des Adlers. Er fliegt viel höher als dieser.


In einer Erzählung aus Montferrat wetten der Zaunkönig und der Adler, wer am besten fliegen könne. Alle Vögel sind anwesend. Während der hochmütige Adler, des Zaunkönigs nicht achtend, in die Lüfte steigt und so hoch fliegt, bis er schließlich ermüdet, befindet sich der Zaunkönig unter einem Flügel des Adlers. Doch als er sieht, daß dieser ermüdet, steigt er noch höher und singt triumphierend.


  • Literatur: Gubernatis, Mythologie zoologique II, 219 = Mélusine 1, 194 Anm. 1.

3. Aus Jütland.


Die Vögel wollten einst einen König wählen, den, welcher am höchsten fliegen könnte, den Adler. Der Zaunkönig setzte sich auf den Bücken des Adlers. Als der Adler am höchsten war, flog der Zaunkönig noch höher, aber so hoch, daß er seine Flügel verbrannte, sie wurden braun und er wurde deshalb Braunkönig genannt.13


  • Literatur: Kristensen, Sagn II, 262.

4. Aus der Champagne.


Der Zaunkönig ist hier wohlbekannt, mit seinen rötlichgelben Flügeln und seinem spottenden Ruf.

Einst, vor der Errichtung des Königreiches der Vögel, vereinigten sich alle Bewohner der Luft, um einen König zu wählen. Es wurde beschlossen, daß dem die Krone bestimmt sein solle, der am höchsten fliegen könne. Zuerst meinte man, daß der Adler den Sieg davontragen würde, aber man hatte ohne den kleinen Zaunkönig gerechnet, der sich auch zum Wettbewerb stellte. Auf ein gegebenes Zeichen fingen alle Bewerber an zu fliegen, und wie ein starker Wirbelwind hob es sich gen Himmel. Der Zaunkönig aber war so winzig klein, daß man ihn bald[165] nicht mehr sah, und der schlaue Vogel schlug einmal kräftig mit den Flügeln, so daß er bis zum Adler herankam, und setzte sich dann ganz sanft auf dessen Rücken. Er war so leicht, daß der Riese der Lüfte ihn nicht bemerkte. Als sie sehr hoch geflogen waren, fingen die ermüdeten Vögel an, sich wieder herabzulassen. Bald war der Adler allein in den Lüften, oder glaubte es wenigstens zu sein. Nach dem er noch einen Augenblick in der Luft geschwebt hatte, wollte er sich nun auch herablassen. Doch da fing der Zaunkönig an zu fliegen. »Was,« rief er dem bestürzten Adler zu, »was, du gibst den Kampf schon auf? sieh mich an, ich bin noch nicht mit meiner Kraft zu Ende, und ich werde noch viel höher fliegen.« Und er flog noch so hoch, daß der Adler sich besiegt erklären mußte, aber ehe sie ganz unten waren, sagte der Große zu dem Kleinen: »Laß uns ein Abkommen treffen, du kannst doch nicht König der Vögel sein, ich kann besser herrschen als du. Wenn du einwilligst, so werde ich der König sein, du aber der Zaunkönig« (je serais le roi et toi, tu seras le roitelet).

Der Vorschlag wurde angenommen, und seitdem heißt der kleine Vogel Zaunkönig (roitelet), seitdem hat auch der Zaunkönig den rotgelben Flügel, denn als er so nahe an die Sonne herankam, rötete sieb, sein Flügel.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 1, 389.

5. Aus Schottland.


a) Adler und Zaunkönig stritten eines Tages darüber, wer am höchsten fliegen könnte. Zum Lohne sollte der Sieger König der Vögel im laufenden Jahre sein. Der Zaunkönig erhob sich geradeswegs in die Luft, der Adler aber flog auf und bewegte sich in großen Zirkeln. Sowie der Zaunkönig müde wurde, setzte er sich auf den Rücken des Adlers. Und als dieser vor Müdigkeit genötigt war, im Fluge innezuhalten, rief er: »Nun Zaunkönig, wo bist du geblieben?« – »Ich bin über dir,« antwortete der Zaunkönig. Und so gewann er die Wette.


  • Literatur: Brueyre, Contes populaires de la Grande Bretagne p. 371 Nr. 98 (aus Campbell, Pop. Tales of the West-Highlands I, 277 = Douglas, Scottish Fairy and Folk-Tales p. 28).

b. Eine zweite schottische Variante hat einen eigenartigen Schluß.


Die Vögel begannen einmal einen Wettstreit, welcher von ihnen am höchsten fliegen könne. Der Zaunkönig aber hüpfte auf den Rücken des Adlers. Als nun der Adler so hoch geflogen war, wie er konnte, fragte er: »Wo bist du jetzt, brauner Zaunkönig?« Der Zaunkönig flog noch ein Stück höher und sagte: »Weit, weit über dir.« Und weil ihm dies verwegene Schelmenstück so gut gelungen ist, darf er seitdem zwölf Eier legen, aber der Adler nur zwei.


  • Literatur: Campbell, Clan Traditions and Popul. Tales of the West-Highlands p. 120, London 1895.

6. Vlämische Variante.


Menschen und Tiere hatten ein Oberhaupt, 'nen König; die Vögel allein genossen dieses Vorrecht noch nicht. Schließlich gingen sie, sich darüber bei ihrem Herrn zu beklagen, und dieser rief alle Vögel zusammen. Eilig kamen da ganze Schwärme angeflogen, und es war ein Singen, Quirilieren und Zwitschern, ein Schmettern und ein Schnalzen, daß Sehen und Hören dabei verging. Als nun alle Vögel vom größten bis zum kleinsten anwesend waren, gebot der Herr Stille und erklärte, daß derjenige unter ihnen zum Könige ausgerufen werden sollte, der im Fluge der Sonne am nächsten kommen würde.

Auf ein verabredetes Zeichen breiteten sie alle auf einmal ihre Flügel aus und stiegen in die Höhe. Doch schon nach kurzer Zeit gaben sich die meisten verloren und ließen sich wieder hinunter; nur der Adler flog immer höher und höher bis[166] er bemerkte, daß alle Vögel den Wettstreit aufgegeben hatten. Überzeugt davon, daß er der Sieger sei, sank er nun auch hinab. Aber unverhofft hörte er über sich ein fröhliches wit! wit! wit! von einem feinen Vogelstimmchen. Er schaute in die Höhe und sah ein klein buntfarbig Vögelchen zu den Wolken aufsteigen. Der Adler wußte nicht, daß das schlaue Tierchen sich beim Auffliegen ganz sacht auf seinen Rücken gesetzt und diesen Platz erst verlassen hatte, als der Adler bereits im Niedersteigen war. Glücklicherweise hatte der Herr den Betrug entdeckt und rief den Adler zum Sieger aus. Doch weil das lose Vögelchen nun einmal am nächsten bis zur Sonne geflogen war und dadurch einen Teil der gestellten Bedingung erfüllt hatte, kriegte er den Titel »Koninksken«. Und diesen Namen hat er seither behalten. (Rupelmonde.)


  • Literatur: Mont en Cock S. 98 f. In einer westvlämischen Variante findet der Wettflug auf den Vorschlag des Adlers hin statt, und der Hahn gibt das Zeichen (Rond den Heerd V, 61).

7. Aus Deutschland.


a) De nettelkönig is jo könig worden, as de vagels in de wedd flagen hebben; dorvon röppt he ümmer: Idelidelitt, könig bün ik; so didelt he ümmer noch, he is jo de öbberst.


  • Literatur: Wossidlo, Mecklenb. Volksüberlief. 2, 1, 53 Nr. 314.

b) Die Vögel beschließen einen König zu wählen. Nach drei Tagen kommt man zum Beschluß, derjenige soll zum König erhoben werden, der das schönste Kleid habe. Alle Vögel suchen sich herauszuputzen und waschen sich im nahen Flusse. Am ersten Tage meinte man der Pfau, am zweiten – der indianische Rabe müsse den Preis davontragen; am dritten jedoch geht die Elster zum Fluß und läßt sich vom Gleiwitz (Kibitz) mit den schönsten von den andern Vögeln abgelegten Federn schmücken. Schon will man sie zum König wählen, da erhebt der Papagei Einsprache und macht sich anheischig, den von ihm vermuteten Betrug der Elster aufzudecken. Am nächsten Tage hält der Papagei eine lange Rede, die Sonnenhitze bewirkt, daß die angeklebten Federn vom Körper der Elster abfallen und sie wird verurteilt, keine Stadt mehr betreten zu dürfen und für ewige Zeit in schwarz-weißem Trauerkleide auf dem Lande umherzufliegen. Der mitschuldige Kibitz wird auf das nasse Ried verwiesen und soll in Trauerkleidern auf ewig seine Schuld beweinen und Tag und Nacht mit kläglicher Stimme seufzen: Wehe mir! wehe mir!

Nun wird vorgeschlagen, man solle denjenigen krönen, der alle im Singen überträfe. Es kommt zu einem furchtbaren Durcheinander; alles singt sich heiser und verstummt; nur der Gimpel und das Spötterlein, das ihn ausspottete, lassen ihre Stimmen hören, doch keiner will sie zu Königen. – Zuletzt faßt man den Entschluß, der Wettflug zu höchst gegen die Sonne solle entscheiden.

Das kleine und verachtete Zaunschlüpferlein muß sich vor den größeren Vögel ducken, um nicht zertreten zu werden und nimmt seine Zuflucht auf den Rücken des Adlers. Die Vögel erheben sich. Adler und Falke steigen am höchsten; schließlich blieb aber allein der Adler übrig. Doch als er sich hinunterläßt, nimmt das Zaunschlüpferlein alle Kräfte zusammen und schwingt sich weit über den Adler hinaus gegen die Sonne zu. Das hat allein der Falke bemerkt; er erzählt den seltsamen Hergang, und die Vögel bestimmen, daß dem Adler zwar die Krone gebühre, weil er den gewaltigsten Flug habe, daß aber das Zaunhüpferlein den Titel führen und von nun an Zaunköniglein heißen solle.


  • Literatur: Ludwig Auerbacher, Ein Büchlein für die Jugend S. 242–248 (1834).

[167] 8. In einer Variante aus Rumänien, die im übrigen die gewöhnlichen Züge aufweist, fliegt jedoch der Zaunkönig ohne Trug höher als der Adler und wird daher König der Vögel.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 8, 595 (Aus Marianu, Ornitologia).

9. Aus Kleinrußland.


Einst sagte Gott zu den Vögeln, denn er wollte ihnen einen König geben: »Wer von euch am höchsten hinauffliegt, den mache ich zum König.« Die Vögel schwangen sich so hoch, wie ein jeder es nur konnte. Es war da aber ein so kleiner Vogel, wie es keinen kleineren auf der Welt gibt. Der setzte sich leise dem Adler auf den Schwanz, aber der Adler merkte davon nichts. Und als er nun so hoch über alle Vögel geflogen war, daß er nicht mehr sichtbar war, erhob sich das Vöglein vom Schwanz und flog noch höher. Aber der Gott Herr lachte, als er dieses sah und meinte: »Auf dem Schwänze des Königs ist ein Königlein hergeflogen.«


  • Literatur: Dragomanov, Malorusskija narod. pred. S. 386 = Bulašev, Ukrainskij narod S. 474, vgl. Etnograf. Zbirnik XII, 28 Nr. 29.

In den folgenden Varianten ist der Zaunkönig durch einen anderen kleinen Vogel ersetzt und zwar in zwei Fällen durch das Rotkehlchen, das auch in den Sagen vom Feuerholen in enge Beziehung zum Zaunkönig gebracht wird.14


10. Aus der Bretagne.


Christus versammelte alle Vögel und sagte ihnen, wer am höchsten flöge, solle König sein. Der Adler flog am höchsten, aber auf ihm saß das kleine Rotkehlchen, das dann noch höher flog. (Côtes-du-Nord.)


  • Literatur: Sébillot, Folklore III, 167 und Traditions et superstitions etc. II, 216.

11. Neugriechisch aus Agrinion in Trichonia.


König der Vögel ist das Rotkehlchen; denn einmal verlangten die Vögel nach einem König, und Gott sagte ihnen, der solle es werden, der am höchsten fliegen werde. Die Vögel wollten nicht, denn sie wußten, daß es der Adler werden würde. Nur das Rotkehlchen bestand darauf. Die Vögel gingen also darauf ein, der Adler flog, und sobald er alle Vögel hinter sich gelassen und soweit gelangt war, daß er nicht höher fliegen konnte, rief er: »Wer kann höher fliegen als ich?« – Das Rotkehlchen, das sich auf dem Rücken des Adlers versteckt hatte, schnellte etwas empor und rief: »Ich!« und so wurde es König.


  • Literatur: Politis Nr. 331.

12. In einer rumänischen Variante versteckt sich die Nachtigall unter den Flügeln des Adlers.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 8, 595 Anm. 1 (Aus Marianu, Ornitologia).

13. Die folgende Variante der Ojibway in Nordamerika dürfte wohl auf europäischem Import beruhen.


Die Vögel veranstalten ein Wettfliegen. Der Adler fliegt am höchsten. Der Hänfling aber hat unbemerkt auf des Adlers Rücken gesessen und fliegt nun höher. Den Preis bekommt jedoch der Adler, weil er nicht nur am höchsten geflogen ist, sondern auch noch den Hänfling getragen hat.


  • Literatur: Swainson, Folklore of British birds p. 65, vgl. Algic Researches II, 216.

[168] 14. Varianten mongolischer Völker in Zentralasien.


a) [Chan Garide15 war früher noch nicht König der Vögel; derjenige soll es werden, der am höchsten fliegt und am raschesten sich wieder hinunterläßt.]

Sarisyn-Bakbagaj (Fledermaus) setzte sich dem Chan Garide auf den Rücken und nahm einen Stein mit sich. Chan Garide merkte das nicht und flog auf; er stieg höher als alle anderen, sah, daß alle Vögel unter ihm blieben und rief ihnen zu: »Wer ist höher als ich?« Und er hörte über sich eine Stimme: »Ich, Sarisyn-Bakbagaj! Jetzt muß man sich hinunterlassen.«

Sarisyn-Bakbagaj drückte den Stein an die Brust, sprang vom Chan Garide hinunter und langte schnell auf der Erde an. Zum Könige wurde er nicht gemacht, aber man befreite ihn von jeder Abgabe und bestimmte, daß die Vögel ihm sein Nest bauen sollten. (Erzählt von einem Djurbjuten.)


  • Literatur: Potanin, Očerki 4, 173, g.

b) Vermischung mit der Fledermausfabel (s. unten S. 197) zeigt die folgende Wettflugvariante aus Zentralasien.


[Die Fledermaus gehört zu den Tieren die Zähne, zu solchen, die Krallen und zu denen, die Flügel haben. Dem König der Tiere zahlt sie keine Abgaben.]

Chan-churmusten-chan, der im Himmel lebt, hatte eine Tochter. Er machte bekannt: welcher Vogel sich höher als alle emporschwingen und wessen Lied er zuerst hören würde, dem werde er seine Tochter geben. Die Fledermaus setzte sich auf die Schultern des Geiers; der Geier erhob sich höher als alle. Chan-churmusten-chan fragt: »Wer ist mir am nächsten von allen?« Die Fledermaus antwortet: »Mein mageres Körperchen.« Der Geier, der nicht wußte, daß auf ihm die Fledermaus saß, hörte ihre Stimme, rüttelte mit den Schultern und warf die Fledermaus ab. Während sie auf die Erde fiel, schrie sie: »Weiche Erde! weiche Erde!« (Erzählt von einem Chalchaser.)


  • Literatur: Potanin, Okraina II, 343 Nr. 2.

Fußnoten

1 Buch der Richter 9, 8. Vgl. Hervieux, Les Fabulistes 2, 689 (Odo), 761 (Sheppeg), 581 (Marie).


2 Reinhart Fuchs S. XLIV.


3 Vgl. Zeitschrift für deutsche Mythologie 1, 2; Grimm, KHM. 171 und Anm.; Pfeiffer, Germania 6, 80; Sloet, De Dieren S. 209; Köhler, Klein. Sehr. 1, 70. 136. 197; Wossidlo, Meckl. Volksüberl. 2, 366. – Ferner hat Dähnhardt in seinen Beiträgen zur vergl. Sagen- und Märchenforschung S. 28 ff. u. 42 nachgewiesen, daß eine große weitverbreitete Gruppe von Sagen über den Wettlauf zwischen zwei Tieren unter dem Einfluß des Wettflugs des Zaunkönigs entstanden ist.


4 Wossidlo a.a.O. 2, 366.


5 Vgl. Cotgrave's Dictionary 1650 s.v. Berchot.


6 Uhlands Schriften 3, 83.


7 Dragomanov, Malorussk. nar. pred. S. 386 = Bulašev, Ukrainskij narod S. 474.


8 Uhland, Schriften 3, 164, J. Grimm, Einleitung zum Beinhart Fuchs S. 44 mit weiteren Belegen.


9 Vgl. Brand, Pop. antiqu. p. 188 ed. by Hazlitt.


10 An diesem Tage wurden, wenigstens noch zu Mitte des vorigen Jahrhunderts, in Südirland Umzüge der Dorfjugend mit Gesängen, die sich auf den Zaunkönig bezogen, veranstaltet, vgl. Uhlands Schriften 3, 83.


11 In der zunächst folgenden Variante 1 a. Vgl. in Abschnitt III die Variante aus Oldenburg, unten S. 174.


12 Eine andere etwas abweichende Fassung ist in den Mém. de la Soc. Archéol. des Côtes-du-Nord 1866 p. 203 mitgeteilt.


13 Hier mag die Vorstellung mitgespielt haben, daß der Zaunkönig einst der Feuerholer, die incendaria avis gewesen ist (vgl. Natursagen Bd. 3, 93 ff.). Doch wäre es auch möglich, daß jenes Schlußmotiv eine selbständige Erfindung des dänischen Erzählers ist, und ebenso in der folgenden französischen Fassung, denn die Situation legt es außerordentlich nahe.


14 Vgl. Natursagen 3, 94 f.


15 Indisch Garuda.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 169.
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