a) Der Listensack.

[258] Eine in Westeuropa besonders gut bekannte Fabel, in der Fuchs und Kater auftreten, erzählt, wie dieser den Fuchs fragt, auf welche Weise er sich verteidigen würde, wenn, plötzlich Jäger mit Hunden kämen. Selbstbewußt erwidert darauf der Fuchs, er kenne genug Listen und Künste und trage überdies einen Sack voll ›cautelis spiritualibus‹ bei sich, derer er sich gegen Feinde zu bedienen pflege. Der Kater meint dazu bescheiden: er besitze nur die eine Kunst, den höchsten Gipfel eines Baumes zu erklettern, wohin ihm kein Feind folgen könne. Als hierauf der Jäger hinzukommt, und die Hunde den Fuchs jagen und schließlich packen, ruft der Kater vom Baume hinunter: »Offne, öffne deinen Sack der Listen!« Worauf Reinhart entgegnet: »Eine Kunst würde ich jetzt allen meinen Listen vorziehen.«

Diese weit verbreitete Fabel1 finden wir zuerst im Romulus App. 20, dann bei Odo, ferner in der fünften Extravagante, die Hans Sachs2 als Quelle diente, vorher schon bei Burkhard Waldis usw. In überzeugender Weise hat Krohn nachgewiesen3, daß die Handlung der Fabel ursprünglich zwischen Igel und Fuchs spielt, worauf schon das alte Sprichwort des Archilochos hinweist: »Viel weiß der Fuchs, der Igel eins nur, doch das hilft.«4

Uns interessiert hier hauptsächlich eine finnische Fassung aus der Nähe von Tammerfors, die eine Umformung der Fabel vorgenommen hat. Sie paßt den Stoff dem Rahmen der übrigen, zwischen Bär und Fuchs spielenden Tiersagen an und fügt sogar an halbwegs geeigneter Stelle die bekannte[258] Ätiologie vom weißen Ende des Fuchsschwanzes ein. In der Übersetzung von E. Schreck heißt es:


Zwischen einigen Tieren, nämlich dem Wolf, dem Fuchs, der Katze und dem Hasen, entstand einmal ein Streit, und sie konnten nicht selber über die Sache einig werden. Deshalb holten sie den Bären herbei, daß er als Richter ihren Streit schlichten sollte. Der Bär kam und fragte die Streiter: »Worüber habt ihr euch entzweit?« – »Wir ereiferten uns über die Frage, wie viele Auswege wohl ein jeder von uns hat, um in der Stunde der Gefahr das Leben retten zu können,« antworteten die andern. – »Nun, wie viele Auswege kennst du?« fragte der Bär zuerst den Wolf. – »Hundert,« antwortete dieser. – »Und du?« fragte der Bär den Fuchs. Dieser antwortete: »Tausend.« – »Kennst du viele?« fragte der Bär jetzt den Hasen. »Ich habe nur meine flinken Läufe,« erwiderte dieser. – Zuletzt fragte der Bär die Katze: »Kennst du viele Auswege?« »Nur einen einzigen,« antwortete die Katze.

Da gedachte der Bär alle auf die Probe zu stellen, um zu sehen, durch welche Mittel ein jedes in der Stunde der Gefahr sich retten würde. Er warf sich plötzlich zuerst auf den Wolf und drückte ihn halbtot. Der Fuchs machte eiligst kehrt, als er sah, wie es dem Wolf erging; der Bär erfaßte ihn eben noch am Schwanzende, wovon der Fuchs noch heutigen Tages am Schwanz einen weißen Fleck hat. Der Hase, der flinke Läufe hatte, ergriff die Flucht und rannte davon. Die Katze kletterte auf einen Baum und sang von oben herab: »Der hundert Auswege kennt, ward eingefangen; der tausend Mittel weiß, ward verstümmelt; das Langbein muß noch immer laufen; der nur einen Ausweg hat, sitzt auf dem Baum und behauptet seinen Platz.« So lang ist's.


  • Literatur: Schreck, Finnische Märchen S. 231 f. = Dähnhardt, Naturgesch. Volksmärchen Nr. 7, 3. 1. Aufl.

Fußnoten

1 Vgl. Benfey, Pantschatantra 1, 241. 2, 91. Hertel, Tantrākhyāyika 1, 133. 2, 41 (s.a. Benfey 1, 312. 316. 494. 2, 337). Grimm, KHM. 3, 125. Krohn, Am Urquell 3, 177–181. Köhler, Kleinere Schriften 1, 408. 534. 560. Chauvin 3, 54. Wesselski, Nasr Eddin 2, 207 (Weimar 1911). Kristensen, Danske Dyrefabler S. 47. Journal-Finno-Ougr. 12, 144 f.


2 Götze-Drescher, Fabeln und Schwänke 2, 22 Nr. 207.


3 a.a.O. 3, 179.


4 Benfey a.a.O. 1, 316, vgl. Zeitschrift d. Ver. f. Volksk. 16, 214.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 259.
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