VIII. Der Wolf und die Geißlein.

[276] In einer weitverbreiteten Fabel, die als äsopisch galt, verwandelt der Wolf seine Stimme und begehrt von den Geißlein Einlaß. Diese aber antworteten: Die Stimme hast du, aber nicht die Gestalt.


  • Literatur: Kirchhoff, Wendunmut 7, 40. Dazu Österley Bd. 5, S. 161. Grimm, KHM. Bd. 3, 15.

Die Vorliebe für ätiologische Ausschmückung hat auf diesen Stoff zweimal in ähnlicher Weise eingewirkt.


1. Aus der Auvergne.


Eine Ziege ist dem Stalle entlaufen und hat sich im Walde ein Haus gebaut. Sie versorgt ihre Kleinen, indem sie ausgeht, ihnen Futter zu suchen; wenn sie wiederkam, rief sie: »Bei der Stimme meines kleinen Bartes und meiner kleinen weißen Pfote, öffnet mir.« Und um sich vor dem Wolf zu sichern, setzte sie vor die Thür ein großes Gefäß mit heißem Wasser.1 Als sie fortgegangen war, dachte der Wolf, der von der weißen Pfote gehört hatte, sich die Pfote mit Kalk weiß zu machen. Er ging dann hin und sagte: »Bei der Stimme meines kleinen Bartes und meiner kleinen weißen Pfote, öffnet mir.« Und die kleinen Zicklein öffneten dem Wolf die Tür. Die beiden großen fraß er, aber das kleinste verbarg sich im Schuh seiner Mutter und der Wolf fraß ihm das Ende seines Schwanzes ab. Seit der Zeit haben die Ziegen nur einen ganz kleinen Stummelschwanz.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 15, 425.

2. Märchen der Wotjaken.


Vor Zeiten lebte ein Hase. Der hatte viele kleine Kinder. Mit diesen wohnte er in einem großen schwarzen Hause. Der Hase ging jeden Tag in den Wald, um Nahrung zu suchen. Wenn er von Hause wegging, trug er seinen Kindern stets auf: »Wenn ich von Hause fern bin, öffnet niemandem und muckst euch nicht!« Wenn er dann mit Nahrung zurückkehrte, befahl er seinen Kindern mit dünner Stimme: »öffnet, öffnet, meine Kinder; ich bin da, eure Mutter; ich habe euch süßes Futter gebracht: Milch, Laub, Hanfsamen auch!« Wenn er also sprach, so öffneten ihm seine Kinder sofort die Tür. Einmal hörte der Wolf, wie der Hase ihnen befahl, zu öffnen. Am nächsten Tage, als der Hase fort war, kam der Wolf zum Hasenhaus und begann mit grober Stimme zu sprechen: »Öffnet mir, öffnet, meine Kinder! Ich bin da, eure Mutter; ich habe euch süßes Futter gebracht!« Die Hasenjungen sprachen: »Deine Stimme ist rauh, die Stimme unserer Mutter ist fein,« und sie öffneten nicht. Nach des Wolfes Abzug kam der Hase selbst zurück. Seine feine Stimme vernehmend, öffneten die Hasenjungen die Tür und erzählten ihrer Mutter, was geschehen war. »Ei, ihr meine klugen Kinder!« lobte der Hase seine Kinder. Bevor der Hase am nächsten Morgen ausging, trug er sei nen Kindern streng auf, niemandem zu öffnen. Der Wolf hörte diese Rede des Hasen, denn er war hinter der Tür versteckt. Nach der Entfernung des Hasen kam er hervor und begann mit der feinen Stimme des Hasen zu sprechen: »Öffnet mir, öffnet, meine Kinder; ich bin da, eure Mutter; habe euch süßes Futter gebracht: Milch, grünes Laub, Hanfsamen auch.« »Diese spricht mit feiner Stimme! Also ist es unsre Mutter!« sprachen die Hasenjungen und öffneten. Der Wolf kam herein und fraß die Hasenjungen. Nur einer konnte sich retten, indem er vom Bettrand[277] durchs rußige Fenster (Rauchloch) hinaussprang. Diesem konnte der Wolf nur den Schwanz abbeißen. Die Ohrenspitzen aber wurden ihm, als er durchs kleine schwarze Fenster sprang, rußig und schwarz. Seit der Zeit sind des Hasen Ohrenspitzen schwarz und sein Schwanz ist abgebissen; deshalb ist er kurz geschwänzt.


  • Literatur: Zschr. f. vgl. Litgesch. N.F. 6, 399 f. Mitgeteilt von H.v. Wislocki nach der Sammlung wotjakischer Volksdichtungen von Dr. Bernhard Munkácsi (Votják népköltészeti hagyományok S. 118); vgl. Ung. Rev. 1889.

Fußnoten

1 Das ist im folgenden bedeutungslos. Anders bei Arnaudin, Contes pop. de la Grande Lande p. 105, wo die Zicklein den Wolf mit heißem Wasser verbrühen.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 278.
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