Sechstes Capitel.
Wie man der Vernunft folgen müsse.

[8] Es gab einst einen gewissen mächtigen, aber tyrannisch gesinnten Kaiser, der eine gewisse sehr schöne Königstochter ehelichte. Als nun die Verlobung geschehen war, so leisteten Beide gegenseitig einen Eid, daß, wenn eins[8] von ihnen eher stürbe, das andere aus allzugroßer Liebe sich selbst tödten solle. Nun trug es sich einmal zu, daß dieser Kaiser sich in ferne Erdtheile begab, und daselbst lange verweilte. Da er nun seine Frau auf die Probe stellen wollte, so fertigte er einen Boten an sie ab, der ihr von seinem Tode sagen solle. Als dieses seine Frau gehört hatte, stürzte sie sich des Eides wegen, welchen sie vorher ihrem Manne geleistet hatte, von einem Berge herab, um so des Todes zu seyn. Indessen starb sie nicht, sondern wurde innerhalb weniger Zeit wiederhergestellt. Dann wollte sie sich zum zweiten Male hinabstürzen um zu sterben, des Schwures wegen, den sie gethan hatte. Als dieß ihr Vater hörte, gebot er ihr, sie solle dem Befehle ihres Mannes und jenem Eide nicht Folge leisten. Sie aber wollte nicht einwilligen und so sprach der Vater: da Du nicht einwilligen und gehorchen willst, so gehe mir schnell aus den Augen. Sie aber sagte: das will ich nicht und beweise Dir das aus folgendem Grunde. Wenn jemand sich durch einen Eid verpflichtet hat, ist er gehalten ihn zu erfüllen: ich habe meinem Manne geschworen, mich aus Liebe zu ihm selbst zu tödten; darum habe ich kein Vergehn begangen, wenn ich meinen Schwur erfüllen will, darf also nicht aus Deiner Nähe verbannt werden. So soll niemand für dasjenige gestraft werden, was empfehlenswerth ist. Da nun Mann und Weib nach Gottes Gebot im Fleische Eins sind, so ist es anzuempfehlen, daß ein Weib aus Liebe zu ihrem Manne sterbe. Daher gab es einst in Indien ein Gesetz, daß eine Frau nach dem Tode ihres Mannes sich vor Schmerz und Liebe selbst verbrennen solle, oder lebendig mit ihm in einem Grabmale verschlossen werde. Und deshalb glaube ich kein Unrecht zu begehen, wenn ich mich selbst aus Liebe zu meinem[9] Manne tödte. Da sagte ihr Vater: Wenn Du erstlich sagst, daß Du durch einen Eidschwur verpflichtet bist etc., so gilt eine solche Verbindlichkeit nicht, welche zu einem bösen Ende oder dem Tode hinaussieht. Ein Eid soll auch der Vernunft gemäß seyn und darum ist der Deinige so gut als gar keiner. Was aber den andern Grund angeht, daß Du gesagt hast, es sey anzuempfehlen, daß eine Frau für ihren Mann sterbe, so hat auch der keine Kraft. Denn ob sie gleich aus fleischlicher Liebe in ihrem Körper nur Eins sind, so sind sie doch in ihrer Seele zwei Personen, unterscheiden sich also wesentlich von einander. Und darum gilt das, was Du angeführt hast, nichts. Als die Tochter dieses gehört hatte, so konnte sie weiter nichts einwenden, sondern hing den Worten ihres Vaters an, wünschte nicht weiter sich selbst von einem Berge zu stürzen, aber auch nicht länger mit ihrem Manne verbunden zu seyn.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 8-10.
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