Neuntes Capitel.
Von der angeborenen Bosheit, die sich durch Sanftmuth bezwingen lasse.

[14] Es herrschte einst der gar kluge König Alexander, der die Tochter eines Königs von Syrien zur Frau nahm, welche ihm einen sehr schönen Sohn gebar. Der Knabe wuchs heran, und als er zum männlichen Alter gelangt war, stellte er seinem Vater beständig nach und suchte überall den Tod desselben herbeizuführen. Darüber verwunderte sich der Kaiser, ging zur Kaiserin und sprach: O Theuerste, sage mir sonder Sorge und Furcht das Geheimniß Deines Herzens, bist Du außer mir von irgend Jemandem erkannt worden? Jene aber sagte:[14] o Herr, warum frägst Du Solches von mir? der aber versetzte: Dein Sohn sucht immerfort meinen Tod; darüber wundere ich mich, weil, wenn er mein Sohn wäre, er Solches nicht versuchen würde. Jene aber sprach: Gott weiß es, daß ich nie von einem Andern als Dir erkannt worden bin, und ich bin bereit, dieses mein ganzes Leben hindurch zu beweisen. Denn er ist in Wahrheit Dein Sohn; warum er Dich aber verfolgt, weiß ich durchaus nicht. Als das der König gehört hatte, sprach er mit aller Sanftmuth folgende Worte zu seinem Sohne: O mein guter Sohn! Ich bin Dein Vater, durch mich bist Du auf die Welt gekommen und wirst mein Erbe seyn. Warum bedrohst Du mich mit dem Tode? Ich habe Dich in lauter Wohlleben erzogen, und Alles, was mir gehört, ist Dein. Höre auf mit dieser Deiner Ungerechtigkeit und wolle mich nicht tödten. Der Sohn aber beruhigte sich bei diesen Reden nicht und seine Bosheit gegen seinen Vater wuchs von Tage zu Tage, und er strebte fortwährend darnach, ihn zu tödten und ihm öffentlich und insgeheim Fallstricke zu legen. Als das der Vater sah, begab er sich an einen abgelegenen Ort, nahm seinen Sohn mit sich, und indem er ein Schwert in seiner Hand trug, sprach er zu seinem Sohne: Nimm dieses Schwert und tödte mich hier, weil es weniger Schande für Dich ist, mich im Verborgenen als öffentlich zu ermorden. Als das der Sohn hörte, warf er alsbald das Schwert von sich, beugte seine Kniee vor seinem Vater und flehte ihn unter lautem Weinen um seine Verzeihung an, also sprechend: O guter Vater, ich habe mich an Dir versündigt und schlecht gehandelt; ich habe ein Unrecht begangen: nun bin ich nicht mehr werth Dein Sohn zu heißen, ich bitte Dich, vergieb mir und liebe mich: ich werde von nun an Dein lieber Sohn seyn und in Allem[15] Deinen Willen thun. Als das der Vater hörte, fiel er ihm um den Hals, küßte ihn und sprach: O mein liebster Sohn, sündige fürder nicht mehr, sey mir ein getreuer Sohn und ich will Dir ein gnädiger Vater seyn. Und als er so gesprochen hatte, bekleidete er ihn mit kostbaren Gewändern, führte ihn mit sich nach Hause und richtete den Unterkönigen seines Reiches ein großes Gastmahl aus. Nach diesem lebte er nur wenige Tage und beschloß sein Leben in Frieden.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 14-16.
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