Sechzehntes Capitel.
Von einem musterhaften Lebenswandel.

[30] Man liest von einem Römischen Kaiser, der als er sich einen sehr schönen Palast erbauen ließ, auf dem Grunde desselben beim Ausgraben der Erde einen goldnen, mit drei Kreisen umgebenen Sarcophag fand, auf welchem folgende Aufschrift stand: »Ich habe ausgegeben, geschenkt, bewahrt, gehabt. Ich habe, ich verlor, ich werde bestraft. Was ich zuerst ausgegeben habe, hatte ich und was ich geschenkt habe, habe ich.« Als das der Kaiser vernommen hatte, rief er die Fürsten seines Reichs zu sich und sprach: Gehet hin und berathet Euch mit einander, was diese Aufschrift bedeuten mag. Jene aber versetzten: diese Schrift besagt nichts weiter als das: Es war vor Dir ein Kaiser, der andern ein Beispiel geben wollte, auf daß diese seinem Lebenswandel folgten. Ich habe mein Leben ausgegeben, indem ich richtige Urtheile fällte, Andere besserte und meine eigene Handlungsweise in Ordnung hielt. Ich schenkte den Kriegern ihre Nothdurft, den Armen das zum Leben Nöthige und einem[30] Jeden wie mir selbst seinen verdienten Lohn. Ich bewahrte in allen Stücken die Gerechtigkeit, den Bedürftigen mein Erbarmen, den Arbeitern ihren verdienten Lohn. Ich hatte ein freigebiges und beständiges Herz und einem Jeglichen, der mir diente, schenkte ich Reichthum in Noth und Gunst zu jeder Zeit. Ich habe eine Hand zum Schenken, Schützen und Strafen. Ich verlor die Thorheit, die Freundschaft der Gottlosen und die fleischliche Lust. Bestraft werde ich jetzt in der Hölle, weil ich an keinen ewigen Gott glaubte: bestraft werde ich, wehe, wo keine Erlösung ist. Als das der Kaiser gehört hatte, regelte er klüglicher Weise sowohl sich selbst als Andere mehr als er es vorher gethan hatte und beschloß in Frieden sein Leben.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 30-31.
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