Zwanzigstes Capitel.
Von Trübsal und Elend.

[40] Es gab einen König Conrad, in dessen Reich ein gewisser Graf war, mit Namen Leopold: der fürchtete des Königs Zorn, flüchtete mit seiner Gattin in einen Wald und versteckte sich in einer Hütte. Wie nun in diesem genannten Walde einstmals der Kaiser Conrad eine Jagd angestellt hatte, so mußte er, da ihn die Nacht überfiel, in eben dieser Hütte ein Obdach suchen. Die Wirthin aber, welche gerade schwanger und ihrer Entbindung nahe war, bereitete ihm so gut sie konnte, ein Lager und reichte ihm auch seine übrigen nothwendigen Bedürfnisse. In derselben Nacht aber gebar das Weib einen Sohn und der Kaiser hörte eine Stimme, welche sprach: »Nimm, nimm, nimm«. Er erwachte aber alsbald aus dem Schlafe und gerieth ganz in Furcht und[40] Schrecken und sprach bei sich: was bedeutet diese Stimme: nimm, nimm, nimm. Er dachte aber »nimm, was Du mußt« und schlief sogleich wieder ein. Und siehe zum andern Male hörte er die Stimme, welche sprach: »gieb wieder, gieb wieder, gieb wieder«. Der Kaiser aber erwachte wieder aus dem Schlafe, wurde sehr traurig und sprach bei sich: was ist das? Zuerst habe ich gehört: nimm, nimm, nimm und gleichwohl habe ich nichts empfangen. Bald spricht die Stimme wieder: gieb wieder, gieb wieder, gieb wieder. Wie soll ich aber etwas wiedergeben, was ich nicht bekommen habe? Der Kaiser fing aber wieder an einzuschlafen, und siehe zum dritten Male hörte er die Stimme, welche zu ihm sprach: »fliehe, fliehe, fliehe: denn der Knabe, der hier geboren ist, wird Dein Eidam seyn«. Als aber der Kaiser das gehört hatte, da bewegten sich alle seine Eingeweide, und als er früh aufgestanden war, rief er seine beiden geheimen Waffenträger zu sich herein und sprach also zu ihnen: Gehet hin und entführt mit Gewalt das Knäblein aus den Armen seiner Mutter, schneidet ihm das Herz mitten von einander und bringt es mir hierher. Diese aber gingen zerknirscht hinweg und raubten den Knaben vom Schooße seiner Mutter; als sie aber seine liebliche Gestalt sahen, wurden sie von Mitleid bewegt und setzten ihn auf einen Baum, damit er nicht von den wilden Thieren gefressen würde, und fingen einen Hasen, schnitten ihm das Herz entzwei und brachten es dem Kaiser. Als aber an demselben Tage ein gewisser Herzog vorüberzog und einen Knaben schreien hörte, nahm er ihn, ohne daß es jemand wußte, an seinen Busen und brachte ihn, da er keinen Sohn hatte, seiner Gattin und ließ ihn aufziehen, indem er vorgab, er sey von ihm und seiner Gattin gezeugt worden. Er nannte ihn aber Heinrich. Als nun[41] der Knabe erwachsen war, hatte er einen gar schönen Körper, eine gewandte Zunge und war Allen angenehm. Da ihn nun der Kaiser so schön und klug sah, so erbat er sich ihn von seinem Vater und hieß ihn an seinem Hofe bleiben. Allein da er bemerkte, wie der Jüngling sich Allen angenehm machte und von Allen gepriesen wurde, da fing er an zu fürchten, er möchte nach ihm sein Reich bekommen und gar etwa der seyn, welchen er zu tödten befohlen hatte. Da er also sicher gehen wollte, so richtete er an seine Gemahlin einen eigenhändig geschriebenen Brief auf diese Weise: »So weit es in Deiner Gewalt steht, mein theures Leben, wirst Du, sobald Du meinen Brief erhalten hast, diesen Jüngling tödten lassen.« Während der aber auf seiner Reise in eine Kirche eingetreten und auf einer Bank darin eingeschlafen war und der Beutel, in welchem der Brief sich befand, von ihm herabging, öffnete ein von Neugier herbeigeführter Priester den Beutel und schauderte, als er von dieser Gottlosigkeit gelesen hatte, kratzte ganz fein die Worte: »Du wirst diesen Jüngling tödten lassen«, weg und schrieb dafür: »Du wirst ihm unsere Tochter zur Gemahlin geben.« Als nun die Kaiserin den Brief gelesen und ihn mit des Kaisers Petschaft verschlossen sah, auch erkannt hatte, daß er von der Hand des Kaisers geschrieben sey, rief sie die Ersten des Reiches zusammen, richtete eine Hochzeit aus und gab demselben ihre Tochter zur Frau: und diese Hochzeit wurde zu Aachen gefeiert. Wie aber dem Kaiser Conrad berichtet wurde, daß die Hochzeit seiner Tochter auf feierliche Weise begangen worden sey, da verstummte er und als er von seinen beiden Waffenträgern, dem Herzoge und Priester die Wahrheit erfahren hatte, sahe er wohl, daß man dem Willen Gottes nicht widerstehen könne: darum schickte er nach dem[42] Jüngling und hieß ihn als seinen Eidam willkommen und bestimmte ihn als seinen Nachfolger im Reiche.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 40-43.
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