Neununddreißigstes Capitel.
Von Gottes und des Menschen Versöhnung.

[62] Man liest in den Thaten der Römer, daß zwischen zwei Brüdern eine solche Zwietracht herrschte, daß der eine Bruder alle Länder des andern verwüstete. Wie das der Kaiser Julius vernahm, unternahm er eine schwere Verfolgung gegen diesen Bruder. Der aber, wie er den Zorn des Kaisers empfunden hatte, kam zu dem Bruder, dem er sovieles Böse zugefügt hatte, flehte ihn um Erbarmen an und bat ihn noch überdieß, er möchte doch zwischen ihm und dem Kaiser den Frieden wieder herstellen. Die Umstehenden aber meinten, er habe nicht den Frieden, wohl aber schwere Strafe verdient. Denen antwortete aber jener: Nicht darf man den Fürsten[62] lieben, der im Kriege sanft ist wie ein Lamm, im Frieden aber strenge wie ein Löwe: obgleich es also mein Bruder nicht um mich verdient, will ich ihn doch, wenn ich kann, wieder zu Gnaden bringen, den das Unrecht, was er mir zugefügt hat, ist schon damit bestraft genug, daß er mein Erbarmen anfleht. Und also stellte er zwischen dem beleidigten Kaiser und seinem Bruder den Frieden wieder her.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 62-63.
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