Siebenundachtzigstes Capitel.
Wie sich Christus für uns in den Tod gegeben hat.

[166] Einst hatte sich ein Kaiser zu einer Schlacht, wo Alles auf Tod und Leben ging, allzusehr bloß gegeben, und konnte dem Tode kaum noch ausweichen, als ein tapferer Ritter, welcher dieses gewahr wurde, sich zwischen den Kaiser und seine Feinde warf, so daß der Kaiser unverletzt davon kam, der Ritter aber verschiedene Wunden bekam und nur mit großer Schwierigkeit geheilt wurde, obgleich er demohngeachtet alle diese Narben behielt. Indessen wurde er von Allen gepriesen, weil er so herrlich für seinen Herrn gestritten hatte. Nun begab es sich aber nachmals, daß dieser Ritter seines Erbtheils auf ungerechte Weise verlustig gehen sollte, er machte sich also zu dem obengenannten Kaiser auf und bat ihn, er möchte ihm doch helfen und einen Ausspruch für ihn thun. Jener aber sprach: mein Lieber, ich kann Dir gegenwärtig[166] nicht aufwarten, ich will Dir aber einen Richter geben, der Deine Sache untersuchen und thun wird, was recht ist. Jener aber sprach: o Herr, warum sprichst Du also? und alsbald zerriß er vor Aller Augen seine Kleider und zeigte ihnen die bis auf das nackte Fleisch gehenden Wundenmale, so sprechend: ist es denn recht, fuhr er fort, daß nachdem ich so viel für Dich geduldet habe, ein Anderer als Du Richter in meiner Sache und Sachwalter für mich sey? Darauf entgegnete der Kaiser, als er dieses gehört hatte: mein Lieber, Du sprichst was wahr ist, denn als ich in Todesgefahr war, hat kein Anderer als Du mich gerettet: er bestieg demnach sogleich den Richterstuhl und fällte ein Urtheil zu seinen Gunsten.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 166-167.
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