Hundertundeinundzwanzigstes Capitel.
Von der Welt Ruhm und Ueppigkeit, wie sie Viele betrügt und in's Verderben führt.

[238] Es gab einst einen König, der in einer Stadt zwei Ritter hatte: der eine war alt, der andere jung. Der Alte war aber reich und nahm ein schönes Mädchen ihrer Schönheit wegen zur Frau, der junge Ritter aber war arm und ehelichte ein reiches altes Weib ihrer Schätze halber, liebte sie aber nicht sonderlich. Nun begab es sich aber einmal, daß der junge Ritter durch das Schloß des alten Ritters zog und die Frau desselben am Fenster an der Sonne saß und lieblich sang. Wie sie aber der Jüngling erblickte, ward er von Liebe zu ihr ergriffen und dachte in seinem Herzen: es würde eine bessere Ehe geben zwischen mir und dieser jungen Frau, als zwischen ihr und ihrem Manne, denn das ist ein alter und kraftloser Greis, und besser wäre es, wenn meine Frau die seinige wäre: und seit dieser Zeit fing er an sie zu lieben und ihr Geschenke zu machen. Die Dame selbst liebte ihn ebenfalls wundersam und ließ, so oft sie nur konnte, ihn zu sich kommen und strebte mit allen Kräften, wenn es möglich wäre, ihn nach dem Tode ihres Mannes zu heirathen. Nun stand aber vor dem Fenster des Schlosses des alten Ritters ein Feigenbaum, auf dem sich jede Nacht eine Nachtigall setzte, welche lieblich sang, und wegen deren Gesang die Dame alle Nächte aufstand, an's Fenster ging und eine lange Zeit daselbst harrte, um den Gesang der Nachtigall zu[239] hören. Wie aber ihr Mann bemerkt hatte, daß sie alle Nächte aufstand, sprach er zu ihr: meine Liebste, was ist denn das für ein Grund, daß Du jede Nacht das Bett verlässest? Sie aber antwortete, daß auf dem Feigenbaum alle Nächte eine Nachtigall sitze, welche so lieblich singe, daß sie aufstehen und ihr zuhören müsse. Wie das der Ritter hörte, stand er frühmorgens auf, ging mit Pfeil und Bogen zu dem Feigenbaume, tödtete die Nachtigall, riß ihr das Herz aus und bot es seiner Gemahlin dar. Wie aber die Dame das Nachtigallherz sah, weinte sie bitterlich und sprach: o meine liebe Nachtigall, Du hast gethan wie Du mußtest, ich bin die Ursache Deines Todes: ich will gleich einen Boten zu dem jungen Ritter schicken, um ihm die Grausamkeit meines Mannes zu melden, daß er die Nachtigall umgebracht hat. Wie das der Ritter hörte, da bewegten sich alle seine Eingeweide und er sprach in seinem Herzen: o wenn es diesem Wüthrich bekannt wäre, eine wie große Liebe zwischen mir und seiner Frau besteht, er würde mich noch schlechter behandeln. Hierauf waffnete er sich mit doppelter Rüstung, ging in das Schloß und tödtete den Alten. Darnach starb aber seine Frau bald, und nach diesem nahm er zu seiner großen Freude die Frau des alten Ritters zur Gemahlin, Beide lebten noch lange und beschlossen ihr Leben im Frieden.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 238-240.
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