Siebente Erzählung.
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Von einem Manne, der nur einen Sohn hatte.

[140] Es war zu Rom ein Mann, der hatte nur einen Sohn, und da er starb, da ließ er dem Sohne nichts weiter als ein Haus, das gar wohl gelegen war. Nun hatte der Knabe einen Nachbar, der hätte das Haus gern gehabt, aber der Knabe wollte es nicht verkaufen und lebte desto kümmerlicher. Da das der Nachbar sah, dachte er nach, wie er einen Grund fände, daß er den[140] Knaben von dem Hause brächte, und kam eines Tages und bat den Knaben, daß er ihm gönnte, daß er zehn Tonnen Oels in seinem Hause auf eine kleine Zeit in einem Winkel stehen lassen könnte. Der Knabe versah sich aber dabei keiner Gefahr und erlaubte ihm das. Des ward der Ungetreue froh und schickte bald, daß man das Oel brächte. Nun hatte der falsche Ungetreue die Tonnen nicht ganz gefüllt und waren sie halb leer, und er setzte sie in eine Kammer und behielt dazu den Schlüssel. Und das stand nun allda nachher wohl über ein halbes Jahr. Da brachte er denn alte Leute mit, die das Oel kaufen sollten, und da er zu dem Oele kam, da schrie er mit lauter Stimme: Waffen herbei gegen den Bösewicht, dem ich meine Habe anvertraut habe. Und er eilte alsbald zu dem Richter und klagte ihm, wie ihm der Knabe sein Oel gestohlen habe, das er auf Treue und Glauben in sein Haus gelegt. Der Richter ging nun den Knaben an, der bat ihn aber um einen Tag Frist, die ihm auch gewährt ward. Darauf ging der Knabe mit großem Leid zu einem weisen Manne, der in der Stadt seinen Wohnsitz hatte, und klagte ihm seine Noth. Der verhieß ihm Hilfe und sprach, er solle sich freiwillig stellen. Von ihm ging aber der Knabe zum Richter, der ihn gefangen legte. Am folgenden Morgen früh führte man ihn vor Gericht, zu welchem auch der weise Mann kam, der ihn so wohl getröstet hatte, und als nun auch die Frage an diesen kam, da sprach er: mir scheint es gut zu seyn, daß Ihr hinschickt und das Oel beschauen laßt. Ist dieses nun so, daß man in den halbvollen Fässern mehr trübes Oel findet, als in den vollen und die Spuren desselben bis an den Rand hinauf gehen, so ist das Oel gestohlen worden, sind aber dagegen in denselbigen Fässern nur so weit Spuren des Oels zu sehen,[141] als dessen Oberfläche bis jetzt noch reicht, so besteht der Knabe und der Andere ist als falsch erfunden. Darin folgte man ihm sogleich, und da fand man, daß die halben Fässer nur so weit Ränder zeigten, als ihr Maaß noch ging; und wie das der Richter vernahm, da urtheilte er, daß man den Kläger hinge, und den Knaben machte er zum Herrn aller seiner Habe.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 140-142.
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