Neunundzwanzigste Erzählung.
† (101).
Von einem Kaiser, der hieß einem Schergen ein edles Weib verderben.

[217] Valerius sagt, daß ein Scherge ein edles Weib um einen Ehebruch halber verderben sollte, und der stieß sie in einen Kerker. Allein da sie der Thurmwärter aus Barmherzigkeit nicht gleich verderben lassen wollte, so ließ er durch seine Gütigkeit ihre Tochter zu ihrer Mutter aus- und eingehen, doch gab er wohl Acht, daß sie nicht Speise und Trank zu ihr trug, und wollte, daß sie also vor Hunger umkäme. Nach vielen Tagen wunderte es aber den Frohnknecht, wie das zugehen möchte, daß die Frau so lange ohne Speise leben möchte und er vernahm, daß sie die Tochter nährte mit der Milch aus ihren Brüsten. Diese unerhörte Güte an der Tochter und die Noth an der Mutter machte den Richter geneigt zur Barmherzigkeit, und er erflehte der Frauen Lösung und Gnade.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 217-218.
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