Vierte Erzählung.
([226] Cap. XXV. aus † p. LXXV. sq. Ausgez. b. Û p. 371.)

Es war einmal ein mächtiger Kaiser, der hieß Andronicus, vor welchem ein Ritter unschuldig verklagt[226] wurde. Wie aber seine Schuld nicht dargethan werden konnte, da legte ihm der Kaiser gewisse verfängliche Fragen vor, die er bei Todesstrafe genau beantworten sollte. Der Ritter aber versetzte, er wolle sein Bestes thun. Da sagte der Kaiser: wie weit ist es vom Himmel bis zur Hölle? Das ist die erste Frage. So weit, entgegnete jener, wie von einem Seufzer bis zum Herzen zurück. Der Kaiser frug weiter: und wie tief ist die See? Der Ritter antwortete: einen Steinwurf. Der Kaiser sprach: wie viele Flaschen Salzwasser sind in der See? Da antwortete der Ritter: gieb mir erst die Zahl der Flaschen mit süßem Wasser an und ich will Dir jene sagen. Nun sagte der Kaiser: Du antwortetest auf meine erste Frage wegen der Entfernung, die zwischen Himmel und Hölle sey, sie wäre so groß, wie die eines Seufzers vom Herzen. Wie kann das möglich seyn? Der Ritter sagte: ein Seufzer kommt aus dem Herzen mit der Geschwindigkeit eines Blitzes, und auf gleiche Weise geht die Seele aus dem Körper über in ewige Pein oder Seligkeit. Der Kaiser fragte weiter: wie ist aber die See einen Steinwurf tief? Der Ritter entgegnete: jeder schwere Körper senkt sich: weil nun ein Stein schwer ist, so fällt er mit einem Male auf den Boden der See, und darum ist die See einen Steinwurf tief. Der Kaiser fragte weiter: und wie vermöget Ihr, so Ihr die Zahl der Flaschen mit frischem Wasser kennet, die der mit Salzwasser angefüllten zu schätzen? Das scheint ja unmöglich. Der Ritter entgegnete: es wird Zeit genug seyn das zu untersuchen, wenn Ihr die Rechnung erst selbst angefangen habt. Der Kaiser aber freuete sich sehr über des Ritters Arglist und sprach zu ihm: gehe hin in Frieden.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 226-227.
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