Eilfte Erzählung.
([234] Cap. LXXVIII. bei Û p. 405. sq. bei † p. XCVIII. sq.)

Einst wurde zu Rom ein Gesetz gegeben, es solle fürder Niemand mehr nach Schönheit, sondern lediglich nach Reichthum heirathen, und daß die Frauen sich niemals mehr an einen armen Mann verheirathen dürften, es wäre denn, daß er im Stande sey sich durch eigene Mittel einen Wohlstand verschaffen zu können, der dem ihrigen gleich käme. Nun hielt ein gewisser armer Ritter um die Hand einer reichen Dame an, allein diese erinnerte ihn an das Gesetz und bat ihn, sein Bestes zu zu thun und sich in die Notwendigkeit zu fügen, um so irgendwie ihre Vereinigung zu Stande zu bringen. Er zog also mit großem Kummer wieder ab, allein nach langem Forschen erfuhr er einmal, daß es einen reichen Herzog gebe, der aber vom Tage seiner Geburt an blind sey. Alsbald beschloß er selbigen zu ermorden und sich seines Vermögens zu bemächtigen: er fand aber, daß derselbe bei Tage von vielen bewaffneten Dienern bewacht wurde, bei Nacht aber durch eine treue Dogge. Er beschloß also den Hund durch einen Pfeilschuß zu tödten, und unmittelbar nach diesem auch durch einen zweiten seinen Herrn. Er vollführte diesen Plan auch und kehrte mit den Schätzen desselben zu seiner Dame zurück. Er berichtete ihr, daß er ihren Auftrag erfüllt habe, und da sie ihn fragte, wie er solches in einem so kurzen Zeitraume habe bewerkstelligen können, erzählte[234] er ihr Alles, was ihm begegnet war. Da bat ihn die Dame, er möchte doch, bevor ihre Vermählung Statt finden könne, sich an den Ort begeben, wo der Herzog beerdigt worden sey, und sich auf dessen Grab setzen und lauschen, was er da hören möchte, und ihr dieses alsdann anhero melden. Der Ritter waffnete sich also und begab sich, seinem Versprechen gemäß, dorthin. Um Mitternacht vernahm er aber eine Stimme, welche also sprach: o Herzog, der Du hier liegst, was willst Du, daß ich für Dich thun soll? Der antwortete aber: o mein Jesus, Du gerechter Richter, alles was ich verlange, ist Rache für mein unschuldig vergossenes Blut. Da antwortete ihm die Stimme: in dreißig Jahren von jetzt an gerechnet, wird sich dein Wunsch erfüllen. Darüber erschrack der Ritter gar sehr und kehrte mit dieser Nachricht zu seiner Dame zurück. Die aber dachte, daß dreißig Jahre eine lange Zeit wären, und entschloß sich zur Heirath, und während der ganzen genannten Zeit blieben beide Theile in ungestörtem Wohlbefinden. Wie aber die dreißig Jahre beinahe um waren, da baute der Ritter ein gar festes Schloß und ließ über eins der Thore folgende Verse einhauen:


Ich floh im Elend einst zu Gott,

Nach dessen End' er ward verspott',

Der kranke Wolf ein Lamm uns schien,

Gesundet war die Sanftmuth hin.


Als er aber über den Sinn dieser räthselhaften Worte gefragt wurde, da erklärte er sie sogleich durch Erzählung seiner Geschichte und fügte hinzu, daß in acht Tagen die dreißig Jahre verflossen seyn würden. Er lud aber alle seine Freunde zu einem Feste auf diesen Tag zu sich ein, und als derselbe gekommen war und die Gäste bei[235] Tafel saßen, und die Minstrels ihre Instrumente stimmten, da flog auf einmal ein schöner Vogel zum Fenster herein und begann mit ungewöhnlicher Lieblichkeit zu singen. Der Ritter aber hörte ihm aufmerksam zu und sprach: ich fürchte, dieser Vogel verkündet mir Unheil. Er nahm also seinen Bogen und schoß in Gegenwart aller seiner Gäste einen Pfeil nach demselben. Aber allsogleich zersprang die Burg in zwei Hälften und stürzte mit dem Ritter, seinem Weibe und Allem, was darin war, in die unterste Tiefe der höllischen Wohnungen. Die Sage erzählt, daß an derselben Stelle, wo das Schloß stand, jetzt ein großer See ist, auf welchem sich nichts schwimmend erhalten kann, sondern alsbald in die Tiefe versinkt.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 234-236.
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