Sechsundfünfzigste Geschichte

[51] geschah: Es sagt, der Kaiser, wider Rabbi Jehauschue ben Chananje: »Euer Gott is geglichen zu einem Löwen, gleichwie geschrieben steht: ›Ein Löw schreit, wer soll sich da nit ferchten.‹ Da hör ich wol, daß Gott der Herr, zu einem Löw geglichen is, was is das denn für eine Stärke? Denn ein starker Mann, der kann wol einen Löwen umbringen.« Da sagt Rabbi Jehauschue wider zum Kaiser: »Es meint nit einen schlechten Löw, es meint den Löw, der da is aus dem Wald, einen solchen Löwen meint er.« Da sprach der Kaiser: »Ich wollt den selbigen Löwen gern sehen.« Da sprach Rabbi Jehauschue: »Du kannst ihn nit sehn.« Da sprach der Kaiser: »Fürwahr, du mußt mir den Löwen weisen über deinen Dank.« Da tät Rabbi Jehauschue Tefille (Gebet). Da ging der selbige Löw aus seiner Wohnung. Un als der selbige Löw noch vierhundert Meilen vom Kaiser war, da hub er an, un brummt mit seiner Stimm, gleich wie es der Seder (die Art) von den Löwen is. Da verwarften alle tragendige Weiber ihre Kinder von dem großen Geschrei, un die Mauer von Rom, die fiel um. Un da er noch dreihundert Meilen vom Kaiser hat, da hub er wieder an zu brummen. Da fielen den Leuten die Zähne aus ihren Mäulern. Un der Kaiser fiel von seinem Stuhl, vor großem Schrecken. So sprach der Kaiser wider Rabbi Jehauschue: »Ich hab dich vor gebeten du sollst Tefille tun (beten), daß ich den Löwen mag sehen. Nun bitt ich dich wieder, daß du sollst Tefille tun, daß der Löw sollt wieder gehn in seine Wohnung, wo er hergekommen is, denn wenn er noch näher kommen wird, so wird er die ganze Welt umbringen.« So tät der Rabbi Jehauschue Tefille, da ging er hinter sich in seine Ruh.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 51-52.
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