Neunundsechzigste Geschichte

[61] geschah an Rabbi Jauchenen, der war reiten aus Jeruscholajim auf einem Esel, un seine Talmidim (Schüler) gingen ihm nach. Da sah er eine Frau, die klaubt die Gerstenkörner aus dem Kot von dem Vieh von die Arabiim (Araber). Da nun die Frau den Rabbi Jauchenen sah, da band sie den Schleier recht auf un ging zu ihm un sagt: »Lieber Rabbi, speis mich.« Da sprach Rabbi Jauchenen zu ihr: »Meine liebe Tochter, wer bist du?« Da sprach sie: »Ich bin die Tochter von Nakdimen ben Gorjen.« Da sprach er: »Liebe Tochter, wo is dein Vaters Gut hingekommen, er is doch gar reich gewesen?« Da sprach sie: »Lieber Rabbi, das Sprichwort geht zu Jeruscholajim, wer sein Gut will einsalzen, daß er es behalten will, der soll Zdoke (Almosen) dervon geben. Ein Teil Leut sagen so: Wer sein Gut einsalzt un gibt kein Zdoke dervon, dem gebricht zuletzt sein Mammon.« Da sagt Rabbi Jauchenen wieder: »Wo is dein Schwäher's Gut hingekommen?« Da sprach sie: »Es is gekommen, daß eines das andere hat tan verlieren.« Da sprach sie: »Lieber Rabbi, gedenkt ihr das noch, da ihr habt euch gechaussemt (gesiegelt) auf meiner Kessubah (Ehevertrag)?« Da sagt er wider seine Talmidim: »Mich gedenkt, da ich mich hab gechaussemt auf ihrer Kessubah. Da hab ich drinnen geleint (gelesen), daß die Nedunjah (Mitgift) is gewesen tausendmal tausend Goldgulden, daß sie ihm hat zugebracht, sonder was sie von ihrem Schwäher hat bekommen.« Da hub Rabbi Jauchenen an zu weinen un sagt: »Wol euch Jisroel, wenn ihr des Heiligen, gesegnet sei er, seinen Willen tut, so is kein Volk noch keine Sprache, die euch gewaltigen kann. Aber wenn ihr nit den Willen von dem Heiligen, gelobt sei er, tut, so werden sie überantwortet in eine Hand eines Volkes, das niedrig is. Un das nit allein, daß sie werden überantwortet in Händen eines Volkes ein niedriges, derzu auch in[61] ihres Vieh's Händ.« Da fragt die Gemore: »Hat denn Nakdimen ben Gorjen keine Zdoke gegeben? Wir haben doch gelernt, wenn der Nakdimen aus seinem Haus in das Bethhamidrasch (Lehrhaus) is gegangen, da hat man ihm gespreitet eitel seiden Gewand, daß er darauf gegangen is, un dernach hat man es die Armen lassen nehmen. Ein Teil Leut erklären es: er hat es getan sein Kowed (Ehre) halber. Ein Teil Leut erklären es: er sollt billig viel von Zdoke gegeben haben, wie er gegeben hat. Derhalben weil er hat nit genug Zdoke gegeben, derhalben is er um das Seine gekommen. Wie das Sprichwort geht: dernach wie die Kamelen essen, dernach legt man ihnen auch ein Last auf. Das meint so: dernach wie einer viel hat, dernach soll er auch viel Zdoke geben. Un das hat Nakdimen ben Gorjen nit getan, drum is er arm geworden.« Darnach spricht Rabbi Elosor bar Zodek: »So wahr soll ich sehen, daß Zion soll wieder gebaut werden, daß ich dieselbige Frau in der Stadt Aku gesehen hab, daß sie hat die Gersten aufgeklaubt zwischen den Füßen von den Pferden, also gar arm war sie gewesen.«

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 61-62.
Lizenz:
Kategorien: