Hunderterste Geschichte

[91] geschah: Der Posuk geht (die Schrift sagt): »Gib mir Maaßer (den Zehnten) von wegen daß du kannst mehr Maaßen geben.« Das meint so: wie mehr daß einer Maaßer gibt, wie reicher einer wird. Denn es war einmal ein Mann, der war ein großer Auscher (ein Reicher) un all sein Aschires (Reichtum) kam ihm her von einem Acker, der tragt ihm alle Jahr tausend Achtel Korn. Un davon gab er alle Jahr hundert Achtel für Maaßer an den Kohen[91] (Priester). Un derweil er so recht Maaßer gab, so ließ ihm der Heilige, gelobt sei er, tausend Achtel Korn wachsen. Un da nun die Zeit kam, daß der Mann sterben sollt, da schickt er nach seinem Sohn, denn er hatt nit mehr als einen einzigen Sohn. Un sprach: »Lieber Sohn, da lieg ich un bin krank, vielleicht muß ich sterben von der Krankheit. Da sieh nun den Acker, den ich dir laß. Der tragt alle Jahr tausend Achtel Korn. Darum mein lieber Sohn, sei gewarnt un gib dein Maaßer recht, so wird dir der Heilige, gelobt sei er, den Acker auch recht wachsen lassen, alswie der Heilige, gelobt sei er, mir auch getan hat.« So sterbt derselbige Mann. So wachst ihm dasselbige Jahr tausend Achtel Korn, wie bei seinem Vater auch. Un er gab auch hundert Achtel weg zu Maaßer, gleichwie sein Vater auch getan hat. In dem andern Jahr gab er wieder hundert Achtel Korn. Da sah er, daß der Maaßer so gar groß is, daß er alle Jahr so viel muß weg geben, un gedacht, ich will das andere Jahr nit so viel geben, ich will mir selbert behalten den Maaßer. Un behielt es sich selbert. Aber das dritte Jahr wachst ihm nix mehr als hundert Achtel Korn auf seinem Acker. Da war sich der Mann gar sehr mezaar (hat ihn sehr geschmerzt), un war gar traurig. Wie nun seine Nachbarn hörten, daß es ihn so schmerzte un so gar traurig war, un daß sein Acker nix mehr tragt als hundert Achtel Korn, da gingen sie hin un täten sich alle in schöne Kleider an un waren gar fröhlich un gingen zu ihm. Da er sie nun sah, daß alle gar hübsche weite Kleider an hatten da sagt er: »Ich glaub ihr seid darum fröhlich weil es mir so übel geht.« Da sagten sie wider: »Es schmerzt uns sehr, daß es dir so übel geht. Un warum schmerzt es uns? Derweil du hast dein Maaßer nit recht gegeben, gleich dir dein Vater hat Zewoe getan (zuletzt befohlen). Komm her, wir wollen dir hübsch sagen. Zuerst, da dir der Acker in deine Hand is gekommen, so bist du der Baalhabajis (Eigentümer) gewesen un der Heilige, gelobt sei er, is der Kohen (Priester) gewesen un du hast die hundert Achtel Korn unter seine Armen umgeteilt, die dem Kohen gebühren, das is der Heilige, gelobt sei er, gewesen. Aber itzundert, weil du ihm sein Maaßer nit hast gegeben, so is der Heilige, gelobt sei er, der Balhabajis geworden, un hat dich lassen der Kohen sein, un hat dir hundert Achtel Korn gegeben, un der Heilige, gelobt sei er, hat sich neunhundert behalten.« Un da er das hört, da gab er sich selbert ungerecht. Un drauf haben unsere Chachomim (Weisen) gesagt: »Welcher aufhält das Maaßer, un gibt das Maasser nit recht, dernach kommt es derzu, daß er zum letzten nit mehr, behalt als ein Teil vom Zehnteil. Derhalben, ihr liebe Leut, gebt euer Maasser recht. Da beschirmt euch der Heilige, gelobt sei er, auch recht.«

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 91-92.
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