Hundertneunte Geschichte

[102] geschah: Man spricht, die Weiber die haben leichten Verstand, sie sind bald zu überreden. Denn es geschah einmal, daß einer Frau ihr Mann war gestorben un sie triebt großen Jammer un Klagen un wollt ja ihren lieben Mann nit gern vergessen un lag Tag un Nacht auf dem Bethchajim (Friedhof) un weint un schrie gar jämmerlich um ihren lieben Mann. Da war einer, der war ein Schaumer (Wächter) bei einem Galgen, den er hütet, daß man niemand herab sollt nehmen von dem Galgen bei Leibstraf des Königs. Un derselbige Galgen, der war nit weit gestanden von dem Bethchajim. Un derselbige Schaumer, der ging bei Nacht zu derselbigen Frau un redet so lang mit ihr, bis er sie überredet, daß sie bei ihm liegen ging. Un in der Zeit, daß er bei ihr is gewesen, so is einer herab gestohlen worden von dem Galgen. Un wie er wieder zu dem Galgen kam, so sah er nix. Da war er sehr erschrocken von wegen dem König, denn er fercht sich, man wird ihn hängen lassen, derweil er nit recht gehütet hat. Da ging er bei dieselbige Frau un verzählt ihr sein Unglück. Da sagt die Frau wider ihn: »Nit fercht dich so sehr. Nimm du meinen Mann aus dem Kewer (Grab) un häng ihn an die Statt.« Da ging er hin un zug mit ihr selbert den Mann aus dem Kewer, un hängten ihn an den Galgen. Da sieht ihr nun, wie die Frau gar sehr gejammert hat, un geweint um ihren Mann, noch gleichwol hat sie den Jezerhore (den bösen Trieb) bei sich gehabt, daß sie sich überreden ließ von dem Schaumer. Derhalben spricht man, die Weiber haben leichten Verstand, sie sind leicht zu überreden, daß sie einem sein Willen tun, wenn sie schon traurig sind. Aber doch findt man fromme Weiber auch. Denn es war einmal eine Frau, die hat sieben Kinder un es sturb ihr ein Kind von ihren Kindern un sie schrie gar sehr. Da sagt man zu ihr: »Nit wein so sehr, denn wenn du sehr weinst, da werden dir, Gott bewahre, noch mehr Kinder sterben.« Un sie schweigt gleichwol nit still, bis sie all nacheinander starben. Un sie sturb dernach auch von wegen dem großen Schmerz, den sie trieb von der Kinder wegen, un tät nit wie die oberste Frau hat getan, die sich hat lassen überreden.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 102-103.
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