Hundertvierundzwanzigste Geschichte

[115] geschah: Da kam ein Talmid (Schüler) in das Bethhamidrasch (Lehrhaus) zu Rabbi Jehauschue un frägt ihn: »Lieber Rabbi, sag mir die Tefille (das Gebet) die man ort (betet) an dem Abend, das meint Thefillasarwis (Abendgebet), muß man die oren oder mag man sie oren?« Da sagt Rabbi Jehauschue wider: »Man mag sie oren, aber man muß sie nit oren.« Da ging der Talmid wieder von Rabbi Jehauschue weg, un ging zu Rabben Gamliel, der war zur selbigen Zeit Rosch[115] Jeschiwe (Vorstand des Lehrhauses), un fragt ihn auch ob man Tefillasarwis muß oren oder ob man sie nit muß oren. Sagt wider Rabbi Gamliel: »Man muß sie oren.« Da sagt der Talmid wider Rabbi Gamliel: »Hat mir doch Rabbi Jehauschue gesagt, wenn man will, bedarf man sie nit zu oren.« Da sprach Rabben Gamliel wider den Talmid: »Wart bis die Rabbonim all ins Bethhamidrasch kommen, da will ich hören, wie sie es halten.« Un wie nun die Rabbonim alle im Bethhamidrasch waren, da kam der Talmid wieder un frägt: »Die Thefillasarwis muß man sie oren oder mag man sie oren?« Das prach Rabben Gamliel wieder: »Man muß sie oren.« Da sagt Rabben Gamliel: »Is einer unter euch, der da wider mich kriegt (streitet) mit der Haloche, der sag es.« Da sagt Rabbi Jehauschue: »Nein, es is keiner, der da wider euch is.« Da sagt Rabben Gamliel: »Warum sagst du nein, daß keiner hinnen wider mich is? Un man hat doch von deinetwegen gesagt, als daß du gesagt hast, daß man die Thefillasarwis nit braucht zu oren. Dann bist du doch ja wider mich. Darum geh geschwind un stell dich da her un sag ob du es geredet hast oder nit.« Da sagt Rabbi Jehauschue wider Rabben Gamliel: »Ich will es euch sagen was es is. Wenn ich lebt un ihr wärt tot, da könnt ich sagen, es wär nit wahr. Warum? Den Toten kann man heißen lügen. Aber jetzunder leb ich, un ihr lebt auch, wie kann ich euch da heißen lügen?« Da stellt sich Rabben Gamliel un darschent (lehrt), un Rabbi Jehauschue, der muß neben ihm her gehn un darft nimmer darschenen. Un Rabbi Chuzpess der war sein Meturgeman (Begleiter), un darschent so lang bis jederman brauges (böse, beleidigt) war, un sagten wider den Rabbi Chuzpess dem Meturgeman: »Steh still un hör auf zu darschenen.« Un sagten: »Wollt ihr Rabbi Jehauschue noch länger kränken? Kommt wir wollen Rabben Gamliel absetzen von seinen Nesiaus (Führeramt). Aber wen wollen wir an seinen Platz setzen? Sollen wir Rabbi Jehauschue in seinen Platz setzen? Der is ein großer Zaddik un möcht den Rabben Gamliel weniger kränken, als Rabben Gamliel ihn gekränkt hat. Sollen wir denn setzen Rabbi Akiwe? Der hat kein Sechus Owaus (väterliches Verdienst). Un Rabben Gamliel der möcht ihn schädigen, daß er möcht sterben. Neiert wir wollen Rabbi Elieser ben Asarje als einen Nasi (Fürst, Obersten) setzen. Der is ein Chochom (kluger Mann) un ein Auscher (ein reicher Mann), un hat Sechus Owaus (väterliches Verdienst). Un auch, wenn man ihn eppes frägt, so kann er es metarez sein (erklären). Un auch wenn man eppes bei dem Malches (Regierung) auszurichten hat, so kann er es mit Geld ausrichten. Un er hat vernehme Eltern gehabt. Un auch kann ihm Gamliel nix tun, wenn er ihm schon ein böses Auge geben wollte, so schadet ihm nix.« Da gingen die Rabbonim bei ihm un sagten wider ihn: »Rabbi, es wär uns gar lieb, daß ihr unser Rosch Jeschiwe (erster Lehrer des Lehrhauses) wollt werden.«[116] Da sagt Rabbi Elieser wider: »Ich will mich vor beraten mit meinem Hausgesind.« Da ging er hin un frägt sein Weib ob er sollt Rosch Jeschiwe werden. Da sagt sein Weib: »Vielleicht geht es dir auch so, wie es Rabben Gamliel is gegangen, denn morgen setzt man dich auch wieder ab.« Da sagt Rabbi Elieser wider sein Weib: »Ich will dir ein Sprichwort sagen: Wenn man aus einem hübschen Gefäß einen Tag trinkt, un wenn man es schon zerbrecht den andern Tag wieder, so liegt nit viel dran. So is es auch, wenn ich nur einen Tag Rosch Jeschiwe bin, ob man mich schon morgen wieder absetzt, da liegt nit viel daran.« Da sprach sie wider: »Du bist aber jung un hast noch kein grau Haar auf deinem Kopf, un es gebührt einem Rosch Jeschiwe, daß er soll alt sein. Un du bist erst achtzehn Jahr alt.« Da geschah ihm ein Ness (Wunder), daß ihm achtzehn Zeilen greise Haar auf seinem Kopf wachsen, daß jedermann meint, daß er wär gar alt, daß er wol würdig war, daß er Rosch Jeschiwe sollt sein. Un das is, das Rabbi Elieser gesagt hat: »Ich bin gleich ein Sohn von siebzig Jahr.« Nit lang dernach da kriegten (streiten) Rabben Gamliel un Rabbi Jehauschue wieder im Bethhamidrasch (Lehrhaus) wieder über eine Haloche. Un die Chachomim (Weisen) gaben Rabbi Jehauschue recht. Da sagt Rabben Gamliel: »So will ich gehn un will Rabbi Jehauschue um Mechileh (Verzeihung) bitten.« Un wie er in Rabbi Jehausche sein Haus kam, da sah er wie seine Wände schwarz waren. Da sprach Rabben Gamliel: »An deinen Wänden seh ich wol, daß du ein Köhler bist, weil die Wände so schwarz sind.« Da sprach Rabbi Jehauschue wider Rabben Gamliel: »Weh dem Daur (Geschlecht), über daß du Parness (Vorsteher) bist, denn du weißt nit, wie die Leut ihr Speis über kommen.« Da sprach Rabben Gamliel wider Rabbi Jehauschue: »Ich hab zu viel wider dich geredet, lieber Rabbi, verzeihe mir.« Da wollt ihm Rabbi Jehauschue nit verzeihen. Da sprach Rabben Gamliel: »Lieber, verzeih mir's von meines Vaters wegen.« Da verzieh ihm Rabbi Jehauschue.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 115-117.
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