Hundertfünfundsiebzigste Geschichte

[185] geschah zu Speier in Tagen des Rabbi Jehude Chossid. Da saß ein Baalhabajis (Hausvater) zu Speier, der war ein großer Auscher (reicher Mann), der schert allzeit seinen Bart mit einem Schermesser, welches uns in unserer heiligen Thauroh verboten is. Da war es Rabbi Jehude Chossid gewahr un schrie ihn oftmal darüber an un verwehrt es ihm, daß er es nit tan sollt. Aber der reiche Mann wollt sich nit daran kehren. Denn er sagt ich bin ein großer Mefunek (sehr empfindlich), ich kann es nit leiden. Da sprach der Chossid: »Sieh, du willst dir nit lassen wehren. Sieh, nach deinem Tod werden Schedim (böse Geister), Gott steh bei uns, kommen, die werden aussehen gleich wie große Kühe un die werden dich hart treten.« Denn es steht in der heiligen Thauroh geschrieben: »Du sollst nit abschneiden die Ecken von deinem Haupt, un sollst sie nit verderben.«[185] Un da nun die Zeit kam, da der reiche Mann sollt sterben, da saßen die Ältesten in Speier bei ihm. Un da er nun tod war, da saß man bei dem Mess (Toten) zu wachen, wie die Sitte is. Da kam Rabbi Jehude Chossid un bracht einen Brief, da Schemaus (kabbalistische Zeichen) drauf waren, un wirft es auf das Meß. Da stund das Mess wieder auf. Da lauften all die Leut von dem Mess weg. Denn sie ferchten sich sehr vor dem Mess. Da hebt das Mess an zu schreien, un riß sein Haar aus dem Kopf vor Schmerzen, un zerkratzt sich sein Ponim (Gesicht). Da fragt ihn der Chossid: »Was fehlt dir, daß du so sehr schreist, un reißt dir dein Haar aus deinem Kopf?« Da sagt er: »Weh zu mir, daß ich dir nit gefolgt hab un hab mich nit lassen von dir wehren.« Da sagt der Chossid wieder zu ihm: »Lieber, sag mir, was hat man deiner Neschome (Seele) getan, da sie dir aus deinem Leib gegangen?« Da sagt er: »Da mir die Neschome ausging, da kam ein Sched (böser Geist) der sah aus, gleich wie eine große Kuh. Der bracht ein Gefäß, das war voller Schwefel un Pech, un da empfing man meine Neschome darein. Da hab ich nit wieder aus dem Gefäß können kommen. Un dernach kam ein Malach (Engel) un nahm das Gefäß mit meiner Neschome von dem Sched, un hat sie gebracht vor den Heiligen, gelobt sei er, der alle Neschomes beschaffen hat. Da kam ein Geschrei im Himmel un sagt wider mich: ›Hast du auch Chumisch (Pentateuch) oder Gemore gelernt?‹ Da hab ich gesagt, ja. Sobald hört ich ein Stimm, daß man mir ein Chumisch sollt bringen. Also war mir ein Chumisch gebracht. Da heißt man mich, ich soll drinnen leinen (lesen). Un wie ich das Chumisch auf tät, da werft ich eben auf den Posuk (Vers): ›Du sollst nit verderben die Ecken von deinem Haupt.‹ Das meint du sollst nit lassen die Peies (Schläfenlocken) abscheren. Da hat man mich gefragt: ›Wie verantwortest du das? Du hast doch das nit gehalten?‹ Da hab ich alsobald wieder gehört ein ander Stimm. Die hat ausgeschrien: ›Gebt die Neschome von diesem Mann ganz herunter in das Gehinnem (Hölle).‹ Un dieweil, daß sie mich haben genommen, un haben meine Neschome in den Händen getragen, da kam wieder ein Stimm un sagt: wart noch mit der Neschome, un trag sie noch nit herunter in das Gehinnem, denn mein Sohn Rabbi Jehude Chossid, der säumt noch ein wenig.« Das meint, es wär zu wissen vor dem Heiligen, gelobt sei er, daß Rabbi Jehude Chossid wird auf mich noch Tefille tun (beten), daß er wird beschirmt werden vor dem Gehinnem. Nun sprach der reiche Mann, der da gestorben war, wider Rabbi Jehude Chossid: »Lieber, sei gebeten un sei mispallel (bete für) auf mich, damit daß meine Seele nit in Gehinnem kommt.« Da war Rabbi Jehude mispallel auf ihn (betete für ihn), daß er vom Gehinnem beschirmt war. Derhalben soll keiner eine Awere (Sünde) tan, die verboten sind, denn eine jegliche Awere, die der Mensch tut, dieselbige[186] Sünde, die hat einen besonderen Sched. Der bringt dieselbige Awere vor den Heiligen, gelobt sei er, wenn er gestorben is, wie ihr auch in der Geschichte geleient (gelesen) habt, daß der Sched (Geist) von der Sünde heiß Kuh. Un der Sched von der Awere wenn er Schatnes (unerlaubte Mischung eines Gewebes) trägt, der heißt der Satan. Derhalben soll sich ein jeglicher Mensch vorsehen vor solche Aweres zu tun, die verboten sind.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 185-187.
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