Zweihunderterste Geschichte

[231] geschah einem reichen Mann, der war gar fromm un war gewohnt gern Zdoke (Almosen) zu geben, un tät den Armen viel Gutes. Aber er hat ein bös hoffärtiges Weib, die gab niemandem gern Essen oder Trinken. Un derselbige Mann hat drei Auzraus (Schatzkammern) mit Geld. Eine Schatzkammer mit Gold davon gab er den Talmidimchachomim (Schriftgelehrten) Zdoke. Un eine Schatzkammer mit Silber- da gab er Witwen un Waisen dervon. Un die dritte Schatzkammer war eitel[231] Kleingeld, das gab er an die Armen. Un er gab jeglichem, was er vonnöten hat. Einmal begab es sich, daß der reiche Mann nit derheim war. Un die Armen kamen un wollten Zdoke (Almosen) haben. Un wie sie hörten, daß der Mann nit derheim war, da wollten die Armen nit in das Haus gehn un blieben haußen vor der Tür stehn. Wie nun die Frau das sah, daß die Armen vor der Tür blieben, da wollt sie den Armen Zdoke geben, gleich wie es die Gewohnheit von ihrem Mann war. Da kam sie zu der Schatzkammer, da das Gold in war. Da fand sie eitel Frösche drinnen. Da ging sie zu der Schatzkammer, da das Silber war, da fand sie eitel Ameisen drinnen. Un dernach ging sie über die Schatzkammer, da das kleine Geld drinnen war, da fand sie Flöhe un Läuse drinnen. Da hebt sie an zu weinen un schämt sich, wieder zu den Armen zu gehn, denn sie hat nix den Armen zu geben. Da blieb sie oben sitzen bei ihrem Mann. Un wie er nun heim kam, da fand er die Armen vor seiner Tür stehen. Da war er zornig über die Armen, um daß sie nit in sein Haus sind gegangen. Un wie er in sein Haus kam, fand er seine Frau sehr weinen, un schreien un sprach zu ihm, er sollt ihr Get (Scheidung) geben. »Denn ich seh wol, daß du mir die rechten Schlüssel nit hast gegeben, die über die Schatzkammern gehen. Neiert du hast mir Schlüssel gegeben, die da gehen über die Frösche un Ameisen un Läus un Flöh.« Da sprach der Mann: »So wahr ich Gott diene, du hast die rechten Schlüssel über all meine Schatzkammern gehabt. Wie du es aber damit gemacht hast, das weiß ich nit. Gib mir meine Schlüssel, ich will selbert danach sehn.« Un wie er nun über seine Auzraus ging, da fand er seine Schätze wieder, gleich wie er sie gelassen hat. Un gab jeglichem Armen gleich wie seine Gewohnheit war. Darauf spricht der Posuk: »Du sollst nit mit einem essen, der dir's nit gönnt un dich nit gern essen sieht.« Un weiter spricht der Posuk: »Gesegnet is der Mann, der da gibt mit einem guten Aug sein Brot an den Armen. Darum soll ein Mensch mit Lieb un Freuden sein Brot an den Oni (Armen) geben. So is es dem Heiligen, gelobt sei er, genehm. Un soll nit warten bis die Armen erst zu ihm kommen un ihr Ponim mewajesch sein (ihr Gesicht beschämen). Der Reiche soll selber chauker wedauresch sein (forschen un suchen) un den Armen eppes geben, was die Armen vonnöten haben, besonders gegen Schabbes un Jomtef (Feiertag), denn Schabbes un Jomtef is desthalben geben worden, daß man die Armen erfreuen soll.«

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 231-232.
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