Zweihundertzehnte Geschichte

[257] geschah an einem König, der hatt eine einzige Tochter un es begab sich einmal, daß man hat die Tochter tot gefunden auf dem Feld. Un der König wirft eine falsche Aliloh (Anschuldigung) den Juden zu, gleich als wenn sie es getan hätten. Un der König war ein großer Rosche (Bösewicht). Un er wollt all die Juden töten, wiewol er den Juden ein Lüge antät. Un sagt gegen sein Volk, die in seiner Stadt waren, daß sie sollten all die Juden töten, so viel als in der Stadt waren. Da waren es die Juden gewahr, wie eine solche Gesere (Verhängnis) vorhanden war. So gingen alle Juden zu einander un beredeten sich miteinander un mit Stadlonaus (Fürsprache) aus zu richten. Un gelobten den Fürsten große Schauched (Bestechung). Aber da war gar keine Nechome (Trost) für die Juden. Also waren zwei Brüder, die waren gar fromme Leut mit Namen Lulianus un Popes, un gingen still schweigedig weg un beredeten sich miteinander, daß sie wollten sagen, sie hätten es getan, vielleicht werden die andern Juden durch sie beschirmt werden, daß sie nit um ihr Leben kommen. Also schwiegen sie still un gingen zum König un sagten: »Mein Herr König, du sollst dich nit vergreifen um alle Juden zu töten, denn sie haben keine Schuld daran. Denn wir haben es getan, aber wir haben es nit gern getan. Denn wir gingen auf dem Weg, da kamen Leut un wollten uns Böses tun, also haben wir uns gewehrt. Also haben wir sie derschlagen. Aber wir haben sie nit gemeint.« Un redeten so viel mit dem König, daß der König zufrieden war. Aber das täten sie darum, daß die andern Juden beschirmt waren un blieben leben. Da schickt der König nach dem Taljon (Henker), die zwei Brüder zu töten, wiewol daß sie keine Schuld hatten. Da hebt der König an wider sie: »Seid ihr nun Herr von dem Volk, so laßt eueren Gott auch kommen, un laßt euch beschirmen vor meiner Hand gleich wie er sie hat beschirmt vor Nebukadnezar.« Da sagten sie wieder: »Mein Herr König, eins, wir sind nit all so fromm, wie sie sind gewesen, daß uns der Heilige, gelobt sei er, soll ein solches Zeichen tun. Zum andern, bist du auch nit so ein gewaltiger König wie Nebukadnezar is gewesen, un wir sind doch schuldig den Tod. Denn der Heilige, gelobt sei er, hat dir's zuleid getan, um daß er unser Blut will an dir rächen. Sonst hätt uns der Heilige, gelobt sei er, Löwen oder Bären oder sonst wilde Tiere zu geschickt,[257] un hätt uns nit brauchen in deine Hände zu schicken. Er tut es darum, daß er uns will rächen an dir.« Aber der König kehrt sich nix daran un ließ sie töten viellerlei Tod, die da nit zu schreiben sind. Un wie nun der Rosche wieder heim gehn wollt in sein Haus, also warten zwei Grafen auf ihn, die seine Feinde waren. Un töteten ihn. Also bezahlt ihn der Heilige, gelobt sei er, gleich wieder. Unsere Chachomim (Weisen) sagen, daß kein Baalteschuwe (Reuiger) un kein Zaddik (Frommer) kann in jener Welt bei den zwei Brüdern sein, derweil sie haben viele Seelen beschirmt vor dem Tod un sie haben gelitten große Not.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 257-258.
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