Zweihundertdreiundzwanzigste Geschichte

[281] geschah an einem Juden, der ging über Feld. Da kam ein Gaslon (Räuber) über ihn un nahm ihm all das Seinige, was er bei sich hat. Da er nun das Seinige genommen hat, da hebt der Räuber an: »Nun will ich dich auch um dein Leben bringen. Wenn ich dich leben laß, so wirst du mich vermassern (verraten) un wirst mich um mein Leben bringen. Drum will ich dich töten, so weiß ich gewiß, daß mir nix wird geschehen.« Da sprach der Jehude mit schreiedigen Augen: »Lieber, ich bitt dich, laß mich doch leben, ich will dich nit vermassern. Aber das sag ich dir, wenn du mich wirst um mein Leben bringen, so werden dich die Vögel vermassern, un wirst doch um dein Leben kommen.« Da sprach der Räuber: »Ich seh, du spottest meiner.« Da sprach der Jehude: »Nein, denn es steht geschrieben in unserer Schrift, die Vögel, die zwischen Himmel un Erd fliegen, die werden es aussagen. Darum sieh, der Vogel, der dorten auf jenem Baum steht, der sagt es aus. Oder ein Teil sagen, ein Engel vom Himmel der heißt Auf (Vogel) der führt das Geschrei aus.« Da sprach der Räuber: »Du wirst mich gewiß vermassern.« Un der Räuber war zornig un tötet ihn (Gott behüte uns). So zug der Räuber fort un kam in ein Wirtshaus, un eßt un trinkt. Da bracht der Wirt eine Schüssel mit Vögeln vor ihn. Wie er die Vögel sah, da hebt er an zu lachen. Der Wirt tät bei dem Tisch stehn un sah wie der Gast lacht. Da fragt er ihn: »Warum lachst du? Derweil du so alleinig lachst, so lacht er gewiß eine Schalkheit. Drum, Lieber, sag mir es, was lachest du?« Da meint der Rozeach (Mörder) derweil es ein Jehude war, so war wenig dran gelegen. Un hebt an, un sagt dem Wirt den Handel, wie es mit dem Juden zugegangen is, un wie er mit ihm hat gespottet, un hat gesagt die Vögel unter dem Himmel werden ihn verraten. Un weil er nun die Vögel sah, so fangt er an zu lachen. So gedacht der Wirt, der Jud hat ihm die rechte Wahrheit gesagt. Un gedacht sich, hat er einen Jehude getötet, so hat er für gewiß mehr getan un wird gewiß ein rechter Mörder sein. Das gebührt mir von rechtswegen solch Ding anzukündigen. Also ging er zum Rosch Iren (Bürgermeister) un sagt ihm, wie er eine[281] Person in seinem Haus hat, der so einen Mord hat getan. Also sprach der Rosch Iren, er soll heimgehn, er wollt bald bei ihm sein. So ging der Wirt heim un setzt sich wieder zu seinem Gast. Über eine Viertelstunde kam der Rosch Iren mit drei Dienern in die Stub un sprach zu dem Rozeach: »Gib dich gefangen.« Da derschrak der Mörder gar sehr un war schier ganz tot. Da nahm man ihn zu vierten gleich gefangen un waren ihn meonoh (bewältigten ihn). So hat er gestanden, daß er den Juden getötet hat, un sonst Mördereien hat getan. So war er geradbrecht. Das war die Wahrheit, daß der Jehude hat gesagt, die Vögel werden ihn verraten.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 281-282.
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