Zweihundertvierzigste Geschichte

[332] geschah an einer alten Frau, die stund alle Morgen früh vor Tag auf un ging in die Schul un sagt Techines (Bitt) un betete zu dem Heiligen, gelobt sei er, un hatte sonst auch noch viel Guttaten an sich, daß sie gar fromm war. Wie nun die fromme Frau gestorben war, da kam sie den andern frommen Leuten im Cholem (Traum) vor. Da fragten sie die Leut: »Wie geht es dir auf jener Welt, derweil du auf dieser Welt so viel Gutes getan hast?« Da sagt die fromme Frau wider: »Man schlägt mich alle Tage mit harten Schlägen. Un nit allein das, wo andere fromme Mannen un Weiber sitzen auf jener Welt, da treibt man mich von ihnen weg, un will mich nit bei derselbigen Freud lassen bleiben«. Un das wär die Ursach, dieweil sie auf dieser Welt gelebt hat, so wär sie allemal bei Kedusche (Schlußgebet) aus der Schul gegangen. Un damit hatt sie sehr gesündigt un Unrecht getan. Darum mußt sie auf jener Welt drum leiden. Derhalben liebe Weiber, tut zu Kedusche nit aus der Schul gehn, so bleibt ihr bei anderen frommen Leuten sitzen un bestehn.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 332-333.
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