Der Hase und die Schildkröte.1
Ein Kamerunmärchen.

[99] Ein Hase traf einst eine Schildkröte.

»Ei,« rief er höhnisch aus, »was du für kurze, häßliche Beine hast!«

Die Schildkröte tat, als habe sie die Worte des Hasen gar nicht gehört.

»Mit den Beinen kannst du gewiß nicht laufen!« höhnte er weiter.

Noch immer tat die Schildkröte, als hätte sie gar nicht hingehört. Das ärgerte den Hasen. Gerade wollte er noch mehr sagen, als plötzlich die verspottete Schildkröte sprach:[99]

»Weißt du was, Hase, ich möchte gern mit dir wettlaufen!«

»Wa – – a – a – s? mit mir, mit mir?« spottete der Hase erstaunt.

»Hm! ja mit dir; warum denn nicht?«

Das ärgerte nun den Hasen, wenn er auch meinte, es sei nur Scherz von der Schildkröte; aber solche Scherze mochte er nicht leiden. Als er nun gar merkte, daß die Schildkröte in vollem Ernste redete, sprach er:

»Nun meinetwegen! Was gilt die Wette?«

»Ich setze alles, was ich habe; du mußt dasselbe tun.«

»Gut! mir ist's recht.«

Dann ging die Schildkröte gemächlich, wie es ihre Gewohnheit war, nach Hause. Der Hase und seine Frau lachten aber hinter ihr her.

Daheim angelangt, sprach die Schildkröte zu ihren Kindern:

»Ich muß heute noch ausgehen, und ihr sollt mich begleiten!« Da freuten sich die kleinen Schildkröten sehr. So ging denn die Alte mit ihnen in den Wald. Bei der ersten Biegung des Weges sprach sie zu ihrem kleinsten Kinde:

»Bleibe hier stehen, und wenn morgen der Hase an an dir vorbeilaufen wird, so ruf' ihm zu: ›Guten Tag, lieber Hase!‹« Dann ließ sie die Worte von dem Kinde noch einmal wiederholen und ging mit den anderen Kleinen weiter.

»Du bleibst hier stehen,« sagte sie nach einer Weile zu dem zweiten Kinde, »und wenn morgen der Hase an dir vorbei kommt, so rufst du ihm zu: ›Guten Tag, lieber Hase!‹«

Das Kind versprach zu tun, was die Mutter verlangte,[100] und diese ging weiter mit den übrigen Kindern. Wieder nach einer Weile, gab sie denselben Befehl einem anderen Kinde und so weiter, bis das sechste Schildkrötchen an einem großen Stein seinen Posten einnahm; dieser Stein sollte, wie verabredet, das Ziel des Wettlaufes sein.

»Du rufst: ›Gewonnen! Ich bin da,‹ wenn der Hase kommt,« sagte sie zu diesem und ging fröhlich nach Hause; denn es war spät, und sie wollte schlafen.

Der Hase tat in der Nacht vor Aufregung kein Auge zu.

»Wie lächerlich von dir!« sagte seine Frau, »als ob eine Schildkröte einen Hasen im Wettlauf schlagen könnte!«

Am anderen Morgen kam ein Freund des Hasen, der Zeuge sein sollte, und holte ihn ab. Darauf ging's zur Schildkröte. Diese war bereit, und man begab sich zu der bezeichneten Stelle im Walde.

»Eins, zwei, drei!« und der Wettlauf ging los.

Nach einer kleinen Weile drehte die Schildkröte auf einem Seitenwege um und ging heim.

Dort wartete sie auf ihre Kinder.

Der Hase lief, so schnell er konnte und dachte weiter nichts bei sich, als er plötzlich neben sich hörte:

»Guten Tag, Herr Hase!«

Ei, wie er da eilig weiterrannte!

»Guten Tag, Herr Hase!« klang's da noch einmal, und wieder: »Guten Tag, Herr Hase.«

Er war außer sich; wütend!

Nun noch ein kleines Stück, und das Ziel war erreicht. Der Hase keuchte weiter.

»Gewonnen! Hier bin ich!« scholl es da.[101]

Da war es aus mit der Kraft des Hasen; erschöpft und ohnmächtig fiel er zu Boden.

Die alte Schildkröte aber sah glückselig ihre Kinder wiederkehren und freute sich ihrer gelungenen List.

Nach geraumer Zeit kam die Frau des Hasen, klagte und weinte und bat die Schildkröte zu vergessen und zu vergeben, wie tief der Hase sie gekränkt habe.

»Er liegt krank daheim,« fügte sie hinzu, »und nun müssen wir dir den Preis zahlen!«

»Geh nur heim!« sagte die Schildkröte, »ich werde mir die Sache überlegen. Morgen komme ich zu dir.«

Am anderen Tage ging sie denn auch wirklich zu ihrem kranken Gegner, sprach ein paar freundliche Worte zu ihm und nahm nur ganz wenig von dem, was ihr zukam.

»Eins aber merke dir,« sagte sie ernsthaft, »du mußt nie wieder spotten über das Aussehen anderer Leute; so wie wir gemacht sind, müssen wir bleiben, und es ist gut so.«

1

Wem fiele beim Lesen dieser Sage unserer schwarzen Landsleute nicht sofort der bekannte deutsche Swinegel ein, der den Wettlauf mit dem Hasen eingeht? Die Ähnlichkeit beider Märchen ist eine so frappierende, daß man geneigt ist, die Originalität des einen oder des anderen zu bezweifeln; dennoch sind beide echt. Die Märchenwelt eines Volkes ist eben nichts anderes, als das Buch seiner Kinderstubengeschichte, diese aber wiederholen sich allerorten, wie auch Spiele und Gewohnheiten von Kindern stets wiederkehren; der kindliche Geist hat zu jeder Zeit seine ihm eigene, sich wiederholende Phantasie.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 99-102.
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