Der sprechende Flaschenkürbis

[174] Es war einmal ein großes Dorf, und die kleinen Kinder gingen dort auf das Feld zu spielen. Da sahen sie einst einen Kürbis und sprachen: »Der Kürbis wird aber groß!« Da sagte der Kürbis plötzlich: »Pflücke mich, so pflück' ich dich.« Die Kinder kehrten heim und sprachen: »Mutter, dort auf dem Felde ist ein Flaschenkürbis, der spricht.« Und die Mutter sprach zu ihnen: »Kinder, ihr lügt!« Die Mädchen aber (die nicht mitgewesen waren) sprachen: »Auf, führt uns hin zu der Stelle, wo der Flaschenkürbis ist.« Als sie hinkamen (die Mädchen allein), und sagten: »Der Kürbis wird groß,« antwortete er nicht, sondern blieb ruhig und gab keinen Laut von sich. Da (gingen die Mädchen wieder nach Hause und) sprachen: »Warum habt ihr uns belogen und beschwatzt?« Die anderen Kinder aber sprachen: »Laßt uns nur hingehen und selbst sehen.« Und sie gingen hin (ohne die Mädchen) und als sie sagten: »Der Kürbis wird groß,« antwortete er: »Pflücke mich, so pflück' ich dich!« Und sie (gingen heim und) erzählten: »Ja, Mutter, er hat wieder gesprochen.« Nun gingen die Mädchen wieder hin, aber der Kürbis sprach kein Wort.

Und der Kürbis wächst, wird groß wie ein Haus und ergreift alle Menschen. Nur eine alte Frau blieb übrig, alle anderen Bewohner des Dorfes verschlang er.[174] Als er satt war, ging er in den See. Die Frau, welche übrig geblieben war, gebar ein Kind. Als es heranwuchs, fragte es seine Mutter: »Wo ist mein Vater?« Sie antwortete: »Dein Vater ist von einem Kürbis verschlungen, der in den See gegangen ist.« Da sprach er: »Laß uns gehen und meinen Vater suchen.« Und er ging aus, und als er an einen See kam, rief er: »Kürbis, komm heraus! Kürbis, komm heraus!« Aber er sah nichts. Da kam er an einen andern See und rief: »Kürbis, komm heraus!« Da sah er das Ohr des Kürbis hervorkommen, erschrak und kletterte auf einen Baum. Von da schrie er immer wieder: »Kürbis, komm heraus! Kürbis, komm heraus!« Und endlich kam der Kürbis heraus, um den Schreier zu verfolgen. Aber dieser kletterte auf einen andern Baum und kam zu seiner Mutter und sprach: »Gieb mir den Köcher, daß ich ihn töte!« Und er nahm Pfeile aus dem Köcher und schoß, und der Kürbis wurde verwundet. Zehn Pfeile schoß er ab, da verendete der Kürbis und brüllte so sehr, daß man es bis Wuga2 hörte. Der Jüngling sprach zur Mutter: »Bringe mein Messer!« Damit schnitt er den Kürbis auf, und die Leute kamen heraus und sprachen: »Wer hat uns befreit?« Er antwortete: »Ich bin es.« Da sprachen sie: »Du sollst unser Häuptling sein, und wir wollen dich ehren.« Und er wurde Häuptling und bezog sein Häuptlingsgehöft.

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Ein Ort in Usambara.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 174-175.
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