Das Schwein rettet ein verlorenes Kind

[177] Es war einmal ein Mann, der hatte ein Kind. Dasselbe ging an den Fluß und traf einen Vogel. Der Vogel sprach zu ihm: »Komm mit mir!« (Und es ging mit ihm.1) Sein Vater suchte es zu Haus, und da er es nicht fand, ward die Mutter traurig und sprach: »Mein Kind ist verloren.« Da sagte ihr ein Hirt: »Das Kind ist mit einem Vogel mitgegangen,« und sie machte sich auf, es zu suchen. Als sie an den Fluß kam, fand sie nur die Kalabasse (mit welcher das Kind hatte Wasser schöpfen wollen), und rief und jammerte: »Vogel, antworte mir!« Der Vogel rief: »Ich gehe in meine Heimat nach Muganda in die Wüste.« Darauf flog er davon.[177] Die Frau folgte ihm und kam nach Wuga (einer Stadt in Usambara) und fragte: »Habt ihr einen Vogel mit meinem Kinde gesehen?« Man antwortete ihr: »Er ist gestern hier durchgekommen.« Da jammerte sie wieder: »Vogel, antworte mir, Vogel!« Und der Vogel rief: »Ich bin in meine Heimat nach Muganda in die Wüste gegangen.« Und er kam nach Luvu (gleichfalls ein Ort in Usambara). Da sah er einen Mann und sprach zu ihm: »Verbirg mir dieses Kind, ich werde von seiner Mutter verfolgt.« Der Mann antwortete: »Nein, ich werde kein Menschenkind verbergen.« Darauf kam der Vogel zum Löwen: »Löwe, verbirg mir das Kind.« Der antwortete: »Ich will es schon verbergen. Wenn ich brülle, wird seine Mutter Angst bekommen und umkehren.« Alsbald rief der Löwe seine Jungen und sprach: »Man hat mir ein Kind gebracht, wir müssen es verbergen.« Aber sein ältester Sohn sprach: »Wir dürfen es nicht verbergen. Ein Waschambala-Kind dürfen wir nicht verbergen. Die Waschambala2 sind schlau und werden uns (zur Strafe) mit Feuer verbrennen.« Da ging der Vogel mit dem Kinde weiter. Er kam zu einem Büffel. »Büffel, verbirg mir dieses Kind hier.« Der sprach: »Ich will es verbergen; wenn seine Mutter kommt, werde ich sie mit den Hörnern stoßen.« Aber die Kuh sprach zu ihm: »Laß das fremde Kind.« Da nahm der Vogel das Kind wieder mit sich und ging davon. Und die Frau (die Mutter des Kindes) folgte ihm immerfort. (Sie kam zu dem Löwen und) fragte ihn: »Löwe, suche mir mein[178] verlorenes Kind.« Er antwortete: »Gestern ist es vorbeigekommen.« Darauf kam sie zu dem Büffel, und er antwortete ihr dasselbe. Der Vogel war unterdessen zu einem Schwein gekommen und sprach: »Schwein, behalte mir dieses Kind hier.« Das Schwein sprach: »Wo hast du es her?« »Ich habe es in Usambara geraubt,« antwortete der Vogel, »verbirg es mir, denn es wird verfolgt werden.« Das Schwein aber weigerte sich (und der Vogel ging weiter). Darauf kam die Frau zum Schwein und sprach: »Väterchen, zeige mir den Vogel, der vorbeigekommen ist.« Es antwortete: »Soeben ist er hier vorbeigekommen.« »Hilf mir, ihn suchen, Väterchen,« bat sie weiter. Das Schwein sprach: »Erwarte mich hier, ich will den Vogel mit List fangen.« (Und es eilte ihm nach und) erblickte ihn und erklomm jenseits den Berg und rief: »Vogel, halt an!« Der aber schrie: »Warum hältst du mich auf? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst das Kind verbergen, und du hast dich geweigert.« Das Schwein antwortete: »Freundchen, halt an, laß uns Frieden schließen; ich will das Kind verbergen.« Der Vogel aber hatte sich auf dem Berge niedergelassen. Als nun das Schwein zu ihm kam, sprach es: »Freundchen, entschließe dich schnell, denn die Sonne brennt sehr; bei dir wird das Kind Hungers sterben, gieb es mir, ich will es mitnehmen.« Und der Vogel (willigte ein und) sprach: »Freundchen, wenn du das Kind mitnimmst, so hüte dich, daß du es nicht eher herausgehen läßt, bis daß vier Tage verflossen sind (damit die Mutter es nicht entdecke).« Darauf flog der Vogel in seine Heimat. Das Schwein aber kehrte zurück, und als es nahe beim Dorfe[179] war, verbarg es das Kind, ging zu seiner Mutter und sprach zu ihr: »Mütterchen, weine nicht! Was wirst du mir geben, wenn ich hinausgehe, dein Kind zu suchen und es finde?« Sie antwortete: »Wenn du es findest – es ist nämlich ein Mädchen – so soll es dein Weib wer den.« Darauf sprach es: »Warte hier auf mich!« Und es ging hin, um das Kind zu holen. Als es aber zu ihm kam, sah es, daß das Kind kein gutes Kleid an hatte, da holte es sein eigenes, gab es ihm und führte es darauf mit sich. Die Mutter umarmte es und sprach: »Mein Kind, das ich verloren glaubte, ist wieder da.« »Erwarte mich hier,« sprach sie zu dem Vater des Schweines3 »mit dem Mädchen, ich werde seinen Vater holen.« Darauf ging sie nach Haus und sprach zu ihrem Gatten: »Du warst zu träge, dem Kinde zu folgen, aber ich habe es gefunden. So komm nun und laß uns hingehen.« Der Mann aber sprach: »Ich will nicht mit leeren Händen gehen, sondern ein Schaf mitnehmen.« Also that er, kam zum Schwein und sprach: »Lieber Mann, gieb mir deine beiden Hände, ich danke dir von Herzen. Traurig saß ich da und dachte, mein Kind wäre verloren (du aber hast es gerettet).« Und er gab ihm das Schaf und sprach: »Ich weiß, daß du große Mühe gehabt hast, den Vogel zu suchen; das Mädchen soll dein Weib werden.« Das Schwein aber sprach: »Ich möchte sie nicht in diesem Dorf lassen, denn der Vogel ist ein schlechter Kerl, er wird sie rauben. Nimm sie mit dir. Wenn ich komme, werde ich sie bei dir zu Hause[180] begrüßen, und wenn du ein Rind für mich findest4 werde ich es nehmen.« Da ging der Mann mit seinem Kinde und seiner Frau nach Haus. Am folgenden Tage kam der Vogel wieder (sah, daß das Kind fort war) und sprach: »Freund, wenn du das Kind fortgejagt hast, werde ich es dort im Dorf doch wieder bekommen.« Das Schwein antwortete: »Nein, es ist von selbst weggelaufen.« Ein älteres Schwein, welches mit dem jüngeren (nämlich dem, welches das Kind gerettet hatte) nicht im Einverständnis war, sprach zu dem Vogel: »Freund, ehe du fortgehst, besuche mich einmal.« Als nun der Vogel zu ihm kam, frug es ihn: »Warum bist du zu uns ins Dorf gekommen?« »Um mein Kind hier im Dorfe zu suchen,« antwortete er. »Hast du es gefunden?« fragte das Schwein wieder. Der Vogel erwiderte: »Nein, es ist entflohen.« Da sprach das Schwein: »Freund, du bist betrogen worden, das Kind ist seiner Mutter zurückgegeben.« (Da wurde er zornig und) sprach: »Ich werde meine Zeit erwarten und wiederkommen, und es rauben.« Aber das Schwein riet ihm ab und sprach: »Thue das nicht. Die Leute werden Lärm machen und dich töten. Laß uns ihm auflauern, wenn es ausgeht, um die Rinder zu empfangen,5 dann wollen wir ein Wörtchen miteinander reden.«

1

Das Eingeklammerte steht nicht im Originaltext, sondern ist des leichteren Verständnisses halber hinzugefügt.

2

Einwohner von Usambara.

3

Mit diesem verhandelt sie jetzt, da es sich um eine Eheschließung dreht, die unter den beiden Vätern gemacht wird.

4

Als Entschädigung.

5

Die ihrem Vater als Hochzeitsgeschenk von dem Schwein gebracht werden.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 177-181.
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