Die Macht der Zauberei.

[148] Ein reicher Kaufmann hatte keine Kinder; deshalb suchte er mittels Zauberei ein solches zu bekommen. Jene Zauberer, an welche er sich wandte, forschten nach und sprachen: »Du wirst ein Kind erhalten, aber es wird von dem Sohne des Kaufmanns so und so getötet werden.«

Fünf Monate später war die Frau des Kaufmanns, welcher sich ein Kind gewünscht hatte, schwanger und gebar einen Sohn, den sie grosszog. Als er das zehnte Jahr erreichte, begab sich der Kaufmann zu Schiff aufs Meer nach einer sehr schönen Insel hin. Dort stieg er[148] an's Land und grub eine Höhle, fünfzig Ellen lang, fünfzig breit und fünfzig tief. Unten hinein baute er ein schönes Haus, legte einen Garten drinnen an, pflanzte alle Sorten Obst, versah das Haus mit Möbeln sowie mit schönen indischen Bettstellen, den schönsten Decken und Speisen jeder Art; alles lud er aus dem Schiffe aus und brachte es in jenes Haus.

Als der Kaufmann das ganze Haus in stand gesetzt hatte, reiste er mit seinem Schiffe ab und fuhr nach seiner Stadt zurück. Dann nahm er seinen Sohn und brachte ihn nach jener Insel hin. Er landete mit ihm und führte ihn in jenes Haus. Dasselbe war oben mit Brettern belegt und ganz mit Erde beworfen, so dass niemand ein Haus daselbst vermutete.

Dies geschah alles, um seinen Sohn zu verstecken, damit er nicht von dem Sohne des andern Kaufmanns getötet werde. Alle fünf Monate kam nun sein alter Vater mit seinem Schiffe und brachte viele Sachen mit; dann öffnete er die Bretter oben, stieg die Treppe hinab und ging unten hinein und traf mit seinem Sohne zusammen. Er brachte ihm andere Sachen und frisches Wasser und hielt sich zehn Tage auf, dann reiste er wieder ab.

Der Sohn des andern Kaufmanns, von dem gesagt worden, er würde jenen Jüngling töten, welcher von seinem Vater in einem unterirdischen Hause verborgen gehalten wurde, verabschiedete sich von seinem Vater und sprach: »Ich möchte reisen, um die Länder kennen zu lernen; alle meine jungen Freunde reisen, warum soll ich nicht?« Darauf gab ihm sein Vater ein Schiff und schickte ihn auf Reisen.

Als der Jüngling auf dem Meere angekommen, erlitt das Schiff Schaden und ging verloren. Er selbst[149] rettete sich auf eine Planke, die ihn bis zu jener Insel trug. Dort angekommen, quälte ihn der Durst sehr und er ging hin und her um die ganze Insel herum, ohne einen Menschen noch sonst etwas zu sehen.

Am andern Tage war er vor Durst und Hunger ganz ermüdet auf der Insel eingeschlafen; beim Schlafen hatte er seinen Kopf auf ein Brett niedergelegt. Als er erwachte, fasste er jenes Brett an, besah es, hob es in die Höhe und entdeckte eine schöne Treppe. Er stieg hinab, trat ins Haus ein und sah jenen Jüngling. Dieser war starr vor Staunen und glaubte, es sei der Teufel, und fragte: »Wer bist Du?« Er antwortete: »Ein Menschenkind, und wer bist Du?« Er erwiderte: »Auch ich bin ein Menschensohn, tritt näher!« Und der junge Mann setzte sich nieder.

»Wie kommst Du hierher?« fragte der andere. Er erwiderte: »Ich wäre beinahe ertrunken, hätte ich nicht eine Planke ergriffen und wäre auf diese Insel zugetrieben, wo ich in diesem schwachen Zustande angekommen bin.« Er gab ihm Essen, Wasser, Früchte, von allem gab er ihm und sprach zu ihm: »Lass uns zusammen bleiben und unterhalte mich hier im Hause, denn ich bin allein.«

So blieben sie einen Monat zusammen. Eines Tages wurde jener Jüngling, der Eigentümer des Hauses, vom Fieber befallen und der Durst quälte ihn sehr. Soviel Wasser er auch zu sich nahm, es löschte nicht seinen Durst. Da sprach er zu seinem Freunde, dem Fremden: »Nimm diese Wassermelone und lege sie mir auf die Brust, damit mein Herz Kühlung erhält.« Dieser stand auf, nahm die Wassermelone und legte sie ihm auf die Brust. Dann sprach er zu ihm: »Bringe ein Messer und zerschneide sie hier auf dem Herzen[150] liegend, damit ich die Kühle ihres Saftes spüre.« Jener wagte nicht zu schneiden; aber in der Weise, wie es ihm der andere befahl zu thun, war er ganz zu dessen Diener geworden. So nahm er denn die Wassermelone, legte sie ihm auf die Brust, ergriff das Messer, ein scharfes Rasiermesser, und schnitt mit demselben so stark, dass es bis zum Rückgrat durchglitt.

Jener Jüngling starb. Der andere hatte jedoch nicht die Absicht gehabt, ihn zu töten, aber sein Tod sollte von der Hand dieses jungen Mannes kommen, das war von jenen Zauberern vorausgesehen worden. Der Jüngling fürchtete sich und verliess das Haus. Dann deckte er die Bretter zu und legte sich unter einen Baum, um dort zu schlafen.

Nach einigen Tagen bemerkte er ein Schiff und er kletterte auf einen Baum. Als das Schiff Anker warf, stieg der alte Vater an Land und langte auf der Insel an. Dann deckte er die Bretter auf, ging hinein und fand seinen Sohn ermordet vor. Da weinte er bitterlich und kam in grösster Traurigkeit wieder heraus. Alle Boote des Schiffes fuhren nun heran und luden die Sachen, die in dem Hause waren, auf. Auch der tote Jüngling wurde herausgeholt, in eine Kiste gelegt und zum Schiffe gebracht.

Als alles erledigt war, lenkte der Alte seine Augen auf einen Baum und entdeckte einen Menschen daselbst. Er erstaunte sehr und fragte: »Wer bist Du?« Dieser antwortete: »Ich bin ein Menschenkind und zwar ein Gläubiger.« »So steige herab«, sprach er zu ihm. Der Jüngling stieg vom Baume herunter, und er fragte ihn: »Wer bist Du, wo kommst Du her?« Er antwortete: »Ich bin der und der.« Da erkannte der Alte jenen Jüngling, von welchem ihm gesagt worden, er würde[151] seinen Sohn töten, an seinem Namen erkannte er ihn. Er wusste auch, dass dies auf Gottes Geheiss geschehen und er ihn nicht absichtlich getötet hatte.

Er fragte ihn: »Wie bist Du hier auf die Insel gekommen?« Dieser antwortete: »Ich wäre beinahe ertrunken, da erfasste ich noch eine Planke und gelangte so auf die Insel.« Dann berichtete er bis zu Ende, wie alles gekommen war. Der Alte sprach zu ihm: »Lass uns gehen, mein Sohn!«

Er brachte ihn bis zur Stadt und sie begruben jenen Jüngling. Dann führte der Alte den andern Jüngling zu seinem Vater und erzählte diesem alles, was sich von Anfang bis zu Ende zugetragen hatte.

Quelle:
Velten, C[arl]: Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stuttgart/Berlin: W. Spemann, 1898, S. 148-152.
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