Prinz Setna und das Zauberbuch.

[117] Ein reicher Kranz von märchenhaften Berichten hat sich in Aegypten an die Person eines Prinzen Setna (Stne, Satni, Sethon) – Chamoïs (Châ-m-ust) angeknüpft. Unter letzterem Namen erscheint der Prinz in zahlreichen historischen Urkunden. Er war ein Sohn des um 1350 v. Chr. herrschenden Königs Ramses II. und eine Zeitlang dazu ausersehen, seinem Vater auf dem Throne Aegyptens zu folgen. Er starb aber vor der Zeit, so daß die Krone einem seiner jüngeren Brüder Mer-en-ptah zufiel, dem Pharao, der meist als der König angesehen wird, unter dem die Israeliten das Land der Bedrückung verließen. Während seiner Lebenszeit beschäftigte sich Chamoïs viel mit religiösen Angelegenheiten, er leitete eine Reihe von offiziellen Festlichkeiten, besonders zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Regierungsjahre seines Vaters, bekleidete die Stellung eines Oberpriesters des Gottes Ptah von Memphis und ließ einen der heiligen Apisstiere bestatten. In dem Grabgewölbe dieses Stieres haben sich zahlreiche Gegenstände[118] gefunden, die den Namen des Prinzen nannten, vor allem kleine Statuetten und schöner Schmuck, die jetzt in dem Museum des Louvre zu Paris aufbewahrt werden.

Der Prinz kam bereits frühe in den Ruf, der Magie ergeben gewesen zu sein. Von einem magisch-mystischen, in mehreren Handschriften vom Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. erhaltenen Texte wird angegeben, er sei von dem Prinzen Chamoïs unter dem Kopfe einer Mumie zu Memphis entdeckt worden. Dieser Gedanke, daß er die Gräber durchstreifte, um tiefer in die Geheimnisse der Zauberei einzudringen, ward in späterer Zeit weiter ausgesponnen. Man schilderte die Erlebnisse, die ihn dabei betrafen und vor allem die Gefahren, die den Verwegenen bedrohten, der die Ruhe der Toten zu stören wagte. In den Kreis dieser Schilderungen versetzt uns der Text, den wir im folgenden wiedergeben. Es liegen von ihm zwei Abschriften vor, die in der spätägyptischen Sprachform des Demotischen aufgezeichnet worden sind. Die besser erhaltene umfaßte einst sechs Seiten, von denen die beiden ersten ganz verloren gegangen sind und von der dritten die Zeilenanfänge fehlen. Der zweite Papyrus ist nur ganz lückenhaft auf unsere Zeit gekommen. Bei der verhältnismäßig großen Einförmigkeit, die in der Erzählung herrscht, ist es möglich, ihren Verlauf auch in dem verlorenen ersten Drittel im einzelnen wieder herzustellen. Ein solcher Versuch ist besonders durch Maspero gemacht worden; wir begnügen uns hier damit, daß wir nur das Wesentliche von dem aufführen, was am Anfange des Berichtes ausgeführt gewesen[119] sein muß. Es wird hierdurch das Verständnis der dann wörtlich wiedergegebenen erhaltenen Teile des Märchens erleichtert werden.


* * *


Es war einmal ein König, der hieß Ramses II.; er hatte zwei Söhne, die ihm ein und dieselbe Frau geboren hatte, der ältere hieß Setna-Chamoïs, der jüngere An-Hor-erru. Chamoïs war in allen Dingen wohl unterrichtet und verbrachte seine Zeit damit, daß er die Gräberstadt bei Memphis durchstreifte um ihre Inschriften zu lesen und daß er in den Tempeln die Papyrusrollen las. So lernte er die alten Zauberformeln kennen, konnte auch selbst derartige Beschwörungen herstellen und hatte als Zauberer im ganzen Lande nirgends seinesgleichen. Als er eines Tages in dem Tempel des Ptah Inschriften las, da stand ein Mann dabei und lachte. Auf die Frage, warum er lache, antwortete er: »Weil du da Inschriften liest, die keinen Wert haben. Wärest du gut beraten, so könntest du in den Besitz eines Buches gelangen, das der Gott der Weisheit Thoth selbst geschrieben hat. Dasselbe enthält zwei Formeln, vermittelst der ersten kann man Himmel und Erde und alles, was darin ist, bezaubern; vermittelst der zweiten auch noch nach dem Tode seine irdische Gestalt wieder annehmen und Sonne und Mond erblicken.« Setna sagte darauf: »Wo ist das Buch? Wenn du mir es verschaffst, werde ich dir alle deine Wünsche erfüllen.« Der Mann entgegnete: »Das Buch befindet sich in der Totenstadt, in dem Grabe[120] des Ne-nefer-ka-Ptah, eines Sohnes des Königs Mer-neb-Ptah.«

Kaum hatte Setna dies gehört, so eilte er zum Könige und bat um die Erlaubnis, mit seinem Bruder An-Hor-erru in die Totenstadt zu gehen und nach dem Buche zu suchen. Die Erlaubnis wurde erteilt, sie suchten mehrere Tage lang bis sie die Grabkapelle fanden. Nun sprach Setna seine Zauberformeln, die Erde öffnete sich und sie gelangten bis zu einer großen Steinplatte. Setna hob diese auf, und sie betraten die unterirdische Kammer, in der Ne-nefer-ka-Ptah ruhte. Es war in der Kammer hell, denn ein Lichtglanz ging von dem hier befindlichen Zauberbuche aus. In dem Grabe waren außer dem Leibe des Ne-nefer-ka-Ptah die Doppelgänger seiner Frau Ahure und ihres Sohnes Mer-ab, die Mumien der beiden letzteren waren aber nicht dort, denn man hatte sie bei der Stadt Koptos in Oberägypten begraben.

Als Setna in die Grabkammer eintrat, erhob sich Ahure und frug: »Wer bist du?« Setna sagte: »Ich bin Setna, der Sohn des Königs Ramses II., und will mir das Zauberbuch holen, das ihr bei euch habt.« Da sagte Ahure: »Raube es uns nicht! Höre vielmehr das Unglück an, das uns wegen dieses Buches betraf, seinetwegen traf uns ein früher Tod. Ich heiße Ahure, die Tochter des Königs Mer-neb-Ptah, und dies hier ist mein Bruder Ne-nefer-ka-Ptah. Wir wurden von einem Vater und von einer Mutter geboren, und diese hatten außer uns keine Kinder. Ich liebte meinen Bruder sehr und hatte keinen anderen Wunsch als den mit ihm vermählt[121] zu werden.« Das sagte ich meiner Mutter, und diese sagte es dem Könige. Der König aber sagte: »Du hast nur zwei Kinder geboren, und nun willst du dieselben auch noch miteinander vermählen. Besser wäre es, wir suchten unsere Familie zu vergrößern und vermählten zu dem Zwecke Ahure mit dem Sohne eines Offiziers und Ne-nefer-ka-Ptah mit der Tochter eines anderen Offiziers«. Da sagte meine Mutter: (Hiermit beginnt der erhaltene Teil des Papyrus.)

»Du handelst ungerecht gegen mich. Wenn ich auch nach diesen beiden Kindern kein weiteres geboren habe, ist es dann nicht doch richtig (der alten, in dem Königshause herrschenden Sitte zu folgen und) die beiden Kinder miteinander zu vermählen?« [Der König aber sagte:] »Ich werde den Ne-nefer-ka-Ptah mit der Tochter eines Offiziers vermählen und die Ahure mit dem Sohne eines andern Offiziers, das möge zur Vergrößerung unserer Familie beitragen«.

Als nun die Zeit gekommen war und man vor dem Pharao ein Fest feierte, da kam man zu mir und führte mich zu dem Feste. Ich war sehr betrübt und war nicht so (heiter) wie ich am vorigen Tage gewesen war. Da sagte der König zu mir: Ahure! Hast du nicht in dieser unangenehmen Angelegenheit zu mir geschickt und gesagt: »Man möge mich mit meinem altern Bruder vermählen?« Ich sagte zu ihm: »Man vermähle mich mit dem Sohne eines Offiziers und er (mein Bruder) möge sich mit der Tochter eines andern Offiziers vermählen, das möge zur Vergrößerung unserer Familie beitragen.« Ich lachte (als ich dies sagte) und der König lachte,[122] dann befahl der König dem Palastvorsteher: »Man soll Ahure heute Nacht in das Haus des Neneferkaptah bringen und mit ihr soll man allerhand schöne Dinge dorthin bringen.« So brachte man mich in das Haus des Neneferkaptah und der König ließ mir Geschenke an Gold und Silber bringen, und der ganze Haushalt des Königs ließ mir Geschenke bringen.

Neneferkaptah brachte einen vergnügten Tag mit mir zu, er empfing (als Besuch) den ganzen Haushalt des Königs, er schlief in dieser Nacht mit mir und fand mich [schön und freute sich] wiederum mit mir, denn wir liebten einander. Und als die Zeit meiner Reinigung kam, da trat sie nicht ein. Man teilte es dem Pharao mit, und er war darüber sehr erfreut. Er ließ allerhand schöne Dinge, die zu dem Königlichen Besitze gehörten, mir bringen und ließ mir ein sehr schönes Geschenk, Silber, Gold und feine Leinewand bringen. Als die Zeit meiner Entbindung gekommen war, da gebar ich das Kind, das hier vor dir liegt und dessen Name Mer-ab ist. Man trug seinen Namen in das Buch des Lebenshauses (das einen Teil des Tempels bildete und in dem wohl die Verzeichnisse der zum Priestertum Berechtigten geführt wurden) ein.

Mein Bruder Neneferkaptah tat aber auf Erden nichts anderes als daß er in die Gräberstadt von Memphis ging. Dort las er in den Schriften, welche in den Gräbern der Könige und auf den Grabsteinen der Schreiber des Lebenshauses standen, und in den Inschriften [welche er in den Grabkammern fand, und er beschäftigte] sich eifrig mit derartigen Schriftstücken. Nach[123] einiger Zeit fand eine Prozession zu Ehren des Gottes Ptah statt und Neneferkaptah trat in den Tempel, um zu beten. Er ging hinter der Prozession her und las die Schriftzeichen, die auf den Kapellen der Götter standen. Da [erblickte ihn ein alter Priester] und lachte. Neneferkaptah sagte ihm: »Warum lachst du über mich?« Der Priester sagte: »Ich lache nicht über dich, aber ich lache, weil du hier (wertlose) Schriften liest. Wenn du (wirklich brauchbare) Schriften lesen willst, so komme zu mir, dann werde ich dich an die Stelle bringen lassen, an der sich das Buch befindet, das der Gott Thoth selbst mit eigener Hand geschrieben hat, als er einst im Gefolge der Götter hier auf die Erde herabgestiegen war. Zwei Formeln stehen in diesem Buche. Wenn du von diesen die erste liest, dann bezauberst du den Himmel, die Erde, die Unterwelt, die Berge, die Gewässer. Du wirst alles verstehen was die Vögel des Himmels und die Reptilien sprechen. Du wirst die Fische der Tiefe sehen, denn eine göttliche Kraft wird in dem Wasser über ihnen herrschen. Und wenn du die zweite Formel liest und wenn du dabei auch im Totenreiche weiltest, so wirst du wieder die Gestalt annehmen, die du auf Erden hattest, du wirst den Sonnengott Râ sehen, wie er sich mit seinem Götterkreise am Himmel erhebt, und wirst den Mond in der Gestalt sehen, die er bei seinem Aufgange besitzt.«

[Neneferkaptah sagte zu dem Priester]: »Beim Leben des Königs! Wenn man mir irgend etwas Gutes sagt, was du dir wünschest, dann werde ich dafür sorgen, daß man es dir gibt, damit du mich dann an den Ort gelangen läßt, an dem[124] sich dieses Buch befindet.« Der Priester sagte zu Neneferkaptah: »Wenn du wünschest, daß ich dich an den Ort gelangen lasse, an dem sich dieses Buch befindet, so gib mir einhundert Teben (ein Teben wiegt etwa neunzig Gramm) Silber für mein Begräbnis und lasse mir zwei Särge machen, wie das für einen reichen Priester üblich ist.« Neneferkaptah rief einen Knaben und veranlaßte, daß man dem Priester einhundert Teben Silber gab und ihm die beiden Särge herstellte, die er gewünscht hatte.

Dann sprach der Priester zu Neneferkaptah; »Das genannte Buch befindet sich inmitten des Gewässers bei Koptos in einer Kiste von Eisen1. Die eiserne Kiste ist in einer Kiste von Bronze, die bronzene Kiste ist in einer Kiste von Zimmtbaumholz, die Kiste von Zimmtbaumholz ist in einer Kiste von Elfenbein und Ebenholz, die Kiste von Elfenbein und Ebenholz ist in einer Kiste von Silber, die silberne Kiste ist in einer Kiste von Gold, und in dieser ist das Buch. Um die Kiste aber, in der das Buch liegt, ist ein Schönus (etwa sechsundeinviertel Kilometer) von Schlangen, Skorpionen und allerhand Reptilien erfüllt, und um die genannte Kiste liegt eine ewig lebende Schlange.«

Seit der Stunde, in der der Priester mit Neneferkaptah gesprochen hatte, wußte dieser nicht mehr, an welchem Orte der Erde er sich befand.[125] Er kam aus dem Tempel heraus, erzählte mir alles, was ihm begegnet war und sagte mir: »Ich gehe nach Koptos, ich werde dieses Buch holen, und dann wird mich nichts mehr vom Norden (also von der Rückkehr nach Memphis, das nördlich von Koptos gelegen war) abhalten.« Da war ich über den Priester entrüstet und sagte: »Möge ihn der Gott Amon für das, was er dir gesagt hat, bestrafen, denn er brachte mir Unangenehmes, er brachte mir Streit, das Land der Thebais (in der Koptos lag) ist mir widerwärtig.« Ich reichte dem Neneferkaptah meine Hand, damit er nicht nach Koptos ginge, aber er hörte nicht auf mich, sondern ging zum Könige und berichtete dem Könige alle die Dinge, die ihm der Priester gesagt hatte. Da sagte ihm der König: »Was ist nun der Wunsch deines Herzens?« Er sagte dem Könige: »Man möge mir die Königliche Barke mit ihrer ganzen Bemannung überlassen. Ich werde Ahure und ihren Sohn Merab mit mir nach dem Süden nehmen und werde dieses Buch zurückbringen und mich nicht weiter aufhalten.«

Man überließ ihm die Königliche Barke mit ihrer Bemannung, wir schifften uns auf ihr ein, wir segelten fort, wir erreichten Koptos. Als dies den Priestern der Göttin Isis von Koptos und dem Oberpriester der Isis gemeldet wurde, da kamen sie an das Ufer herab uns entgegen, ohne zu zögern gingen sie Neneferkaptah entgegen, und ihre Frauen kamen zum Flusse herab mir entgegen. [Wir gingen an das Ufer] und gingen in den Tempel der Göttin Isis und ihres Sohnes Harpocrates. Neneferkaptah ließ einen[126] Stier, eine Gans und Wein kommen und brachte vor Isis von Koptos und vor Harpocrates ein Opfer und eine Weihespende von Flüssigkeiten dar. Dann führte man uns in ein sehr schönes Haus und Neneferkaptah brachte vier Tage damit zu, daß er mit den Priestern der Isis Feste feierte, und die Frauen der Priester der Isis von Koptos feierten mit mir ein Fest.

Als der Morgen des folgenden, des fünften Tages kam, da ließ sich Neneferkaptah eine große Menge reines Wachs bringen. Er formte daraus eine Barke, die von ihren Ruderern und Matrosen erfüllt war, er las eine Zauberformel über diesen Bildwerken, er gab ihnen Atem, er warf die Barke in das Wasser. Dann füllte er die Königliche Barke mit Sand, [machte sie fahrtbereit] und ging an Bord, ich aber setzte mich an das Ufer des Niles bei Koptos und sagte: »Ich will wissen, was ihm geschehen wird.« Er aber sagte: »Ruderer! rudert für mich bis an die Stelle, an der dieses Buch ist.« Und sie ruderten für ihn bei Tag und bei Nacht. Nach drei Tagen war er an die Stelle gekommen, da warf er den Sand vor sich her in die Tiefe des Flusses und so entstand eine wasserleere Stelle in dem Flusse.

Er fand einen Schönus, angefüllt von Schlangen, Skorpionen und allerhand Reptilien um die Kiste, in der das Buch war, und fand eine ewiglebende Schlange um die genannte Kiste. Da las er über dem Schönus von Schlangen, Skorpionen und allerhand Reptilien, die rings um die Kiste waren, eine Zauberformel und ließ nicht zu, daß sie (zu seinem Schiffe) heraufkamen.[127] Da kam er an die Stelle, an der die ewig lebende Schlange war, er kämpfte mit ihr und tötete sie, sie lebte wieder auf und nahm ihre (einstige) Gestalt wieder an. Er kämpfte ein zweites Mal mit ihr, er tötete sie und sie lebte wieder auf. Er kämpfte zum dritten Male mit ihr und schnitt sie in zwei Stücke, er warf Sand zwischen die beiden Stücke, die Schlange starb und nahm ihre frühere Gestalt nicht wieder an.

Neneferkaptah ging nunmehr an die Stelle, an der sich die Kiste befand. Er fand, daß es eine Kiste von Eisen war. Er öffnete diese und fand eine Kiste von Bronze, er öffnete diese und fand eine Kiste von Zimmtbaumholz, er öffnete diese und fand eine Kiste von Elfenbein und Ebenholz, er öffnete diese und fand eine Kiste von Silber, er öffnete diese und fand eine Kiste von Gold, er öffnete diese und fand in ihr das Buch. Er nahm das Buch aus der goldenen Kiste heraus und las in ihm eine der Formeln der Schrift. Er bezauberte den Himmel, die Erde, die Unterwelt, die Berge, die Gewässer, er verstand alles, was alle Vögel des Himmels, die Fische der Tiefe und die Vierfüßler des Gebirges sagten. Er las die zweite Formel und erblickte den Sonnengott Râ, wie er am Himmel aufging und seinen Götterkreis, und er sah den aufgehenden Mond und die Sterne in ihrer (wahren) Gestalt; er sah die Fische der Tiefe, denn eine geheimnisvolle Kraft war in dem Wasser, das sich über ihnen befand.

Dann las Neneferkaptah eine Zauberformel über das Wasser und ließ es seine frühere Gestalt[128] wieder annehmen. Hierauf begab er sich wieder an Bord und sagte zu den Ruderern: »Rudert für mich bis zu der Stelle, von der wir ausgefahren sind.« Und sie ruderten für ihn bei Nacht und bei Tag, da kam er an die Stelle, an der ich war. Und er fand mich am Ufer des Niles zu Koptos sitzend. Ich hatte nichts getrunken, ich hatte nichts gegessen, ich hatte nichts in aller Welt getan, ich war wie ein Mensch, der bereits sein gutes Haus (sein Grab) erreicht hat. Ich sagte zu Neneferkaptah: »O mein Bruder und Gatte! Laß mich dieses Buch sehen, um dessentwillen wir uns alle diese Mühe gegeben haben.«

Er gab mir das Buch in die Hand und ich las die eine der Formeln, die in ihm niedergeschrieben waren. Ich bezauberte den Himmel, die Erde, die Unterwelt, die Berge, die Gewässer; ich verstand alles, was die Vögel des Himmels, die Fische der Tiefe und die Vierfüßler sprachen. Ich las eine zweite Formel aus der Schrift, da sah ich den Sonnengott Râ, wie er mit seinem Götterkreise am Himmel aufging, ich erblickte den aufgehenden Mond und alle Sterne des Himmels in ihrer (wahren) Gestalt, ich sah die Fische in der Tiefe, denn eine göttliche Kraft war über ihnen in dem Wasser. Ich konnte nicht als ein gelehrter Schreiber gelten, wenigstens nicht, wenn man mich mit meinem ältern Bruder Neneferkaptah verglich, der ein vortrefflicher Schreiber und ein ausgezeichneter Gelehrter war. So ließ er sich denn ein Stück frischen Papyrus bringen, auf dieses schrieb er alle Formeln, die in dem Buche standen, er[129] tränkte (dieses beschriebene Blatt) mit Bier, er löste es in Wasser auf und überzeugte sich, daß alles aufgelöst war. Dann trank er es und wußte alles, was auf ihm gestanden hatte.

An dem gleichen Tage kehrten wir nach Koptos zurück, wir feierten vor der Göttin Isis von Koptos und dem Gotte Harpocrates ein Fest, dann schifften wir uns ein, segelten fort und kamen bis zu einer Stelle, die einen Schönus weit nördlich von Koptos gelegen war. Nun hatte aber der Gott Thoth alles erfahren, was dem Neneferkaptah mit diesem Buche geschehen war. Ohne Verzug klagte er vor dem Sonnengotte Râ und sagte: »Wisse, daß mein Recht und meine Vorschrift sich in den Händen des Neneferkaptah, des Sohnes des Königs Mer-neb-ptah, befinden. Er drang in meine Wohnung ein, er plünderte sie, er nahm die Kiste, die mein Buch enthielt, er tötete den Wächter, der es bewachte.« Da sprach der Gott: »Er ist vor dir (und damit in deiner Gewalt), er und alle die Leute, die zu ihm gehören, sie alle insgesamt.« Man ließ eine göttliche Kraft vom Himmel herabkommen, welche sprach: »Man lasse Neneferkaptah nicht heil nach Memphis kommen, weder ihn noch irgend einen von den Leuten, die zu ihm gehören, von ihnen allen, insgesamt.«

Um diese Stunde kam Merab, der kleine Junge, aus dem Schattendache der Königlichen Barke heraus, er fiel in den Fluß, es erfüllte sich der Willen des Sonnengottes Râ (er ertrank) und alle, die an Bord waren, stießen einen Klageruf aus. Neneferkaptah trat aus dem Schattendache heraus, sprach eine Zauberformel[130] über das Kind und ließ es aus der Flut emporsteigen, denn eine göttliche Kraft befand sich in dem Wasser über ihm. Er sprach eine Zauberformel über das Kind, er ließ es alles berichten, was ihm geschehen war, und ließ es von der Anklage erzählen, die der Gott Thoth vor dem Gotte Râ vorgebracht hatte. Wir kehrten mit dem Kinde nach Koptos zurück, wir ließen es in das Grab bringen, wir ließen die Leute sich versammeln, um für das Kind die Grabzeremonien zu vollziehen, wir ließen es einbalsamieren, wie sich das für einen Fürsten und vornehmen Mann gebührt, wir ließen es in seinem Sarge in der Gräberstadt von Koptos beisetzen. Dann sagte mein Bruder Neneferkaptah: »Laß uns stromabwärts fahren, laß uns nicht zögern, damit der König die Dinge vernehme, die uns zugestoßen sind, damit sein Herz über das Unglück (mit uns) trauern möge.«

Wir schifften uns ein, wir segelten fort, wir kamen ohne Verzug einen Schönus weit nördlich von Koptos, wir gelangten zu der Stelle, an der Merab, das kleine Kind, in das Wasser gefallen war. Da trat ich aus dem Schattendache der Königlichen Barke heraus, ich fiel in das Wasser, ich erfüllte den Willen des Sonnengottes Râ, und alle, die an Bord waren, stießen einen Klageruf aus. Man teilte Neneferkaptah das Geschehene mit, er trat aus dem Schattendache der Königlichen Barke heraus, er sprach eine Zauberformel über mich, er ließ mich emporsteigen, denn eine göttliche Kraft befand sich in dem Wasser über mir. Er ließ mich aus dem Wasser bringen, er sprach eine Zauberformel über mich und ließ[131] mich alles berichten, was mir begegnet war und ließ mich von der Anklage erzählen, die der Gott Thoth vor dem Sonnengotte vorgebracht hatte. Er kehrte mit mir nach Koptos zurück, er ließ mich in das Grab bringen, er sorgte dafür, daß die Leute um mich herumstanden, um für mich die Begräbniszeremonien zu vollziehen. Er ließ mich einbalsamieren, wie es sich für einen Fürsten und sehr vornehmen Menschen gebührt, und ließ mich in dem Grabe beisetzen, in dem Merab, der kleine Junge, bestattet worden war.

Dann schiffte sich Neneferkaptah wieder ein, er fuhr stromabwärts und gelangte ohne Verzug an die Stelle nordwärts von Koptos, an der wir in den Fluß gefallen waren. Da sagte er zu sich selbst: »Soll ich nicht lieber nach Koptos zurückkehren, um mich bei den beiden Verstorbenen niederzulassen? Tue ich es nicht und gehe jetzt nach Memphis und fragt mich der König nach seinen Kindern, was soll ich ihm da sagen? Kann ich ihm etwa sagen: Ich habe deine Kinder mit mir nach dem Gau von Theben genommen, ich habe sie getötet, während ich selbst am Leben blieb, und nun komme ich nach Memphis und bin noch immer lebendig?« Er ließ sich eine Binde von feiner Leinewand bringen und machte aus dieser ein Band. Damit band er das Buch zusammen, legte es auf seinen Leib und befestigte es dort. Dann ging Neneferkaptah aus dem Schattendache der Königlichen Barke heraus, er fiel in den Fluß und erfüllte den Willen des Sonnengottes Râ. Alle, die sich auf dem Schiffe befanden, stießen einen Klageruf aus und sagten: »Welch großer Kummer,[132] welch trauriger Kummer (ist über uns gekommen). Er ist dahingegangen, er, der vortreffliche Schreiber, der gelehrte Mann, dessen gleichen es nicht mehr gibt.«

Die Königliche Barke fuhr stromabwärts, ohne daß irgend ein Mensch auf Erden den Ort wußte, an dem sich Neneferkaptah befand. Als sie nach Memphis gelangte, da teilte man dem Könige diese Ereignisse mit. Der König stieg hinab zum Flusse, zu der Königlichen Barke. Er trug Trauerkleider, und die ganze Besatzung von Memphis und die Priester des Gottes Ptah und der Oberpriester des Ptah und die ganze Umgebung des Königs hatten Trauerkleider angelegt. Da erblickten sie Neneferkaptah, der sich, Kraft seiner Kenntnisse als ausgezeichneter Schreiber, an die Steuerruder der Königlichen Barke angehängt hatte. Man hob ihn aus dem Wasser und sah das Buch an seinem Körper befestigt. Da sprach der König: »Man soll das Buch, das an seinem Körper sich befindet, verbergen.« Aber die Leute aus der Umgebung des Königs, die Priester des Gottes Ptah und der Oberpriester des Gottes Ptah sagten vor dem Könige: »O du, der du unser großer Herr bist! Möge dir die Lebensdauer des Sonnengottes Râ zuteil werden! Neneferkaptah war ein vortrefflicher Schreiber und ein sehr gelehrter Mann (er wird also auch nicht ohne Grund das Zauberbuch an sich festgebunden haben und ist es daher besser, es ihm zu belassen).« Der König ließ Neneferkaptah (samt dem Buche) zu Grabe tragen. Die Einführung in die Gräberstadt dauerte sechzehn Tage, die Umwickelung mit Mumienbinden[133] fünfunddreißig Tage, die Bestattung siebzig Tage. Dann setzte man ihn in seiner Grabkammer innerhalb seiner Grabanlagen bei.

Ich habe dir (schloß Ahure ihre Rede) das Leid berichtet, das uns wegen dieses Buches betroffen hat, wegen des Buches, von dem du gesagt hast: »Man soll es mir geben. Du hast kein Anrecht an das Buch, nachdem uns seinetwegen unsere Lebenszeit auf Erden verkürzt worden ist.«

Setna aber (blieb ungerührt und) sagte: »Ahure! Lasse mir das Buch geben, welches ich zwischen dir und Neneferkaptah erblicke, sonst werde ich es mir mit Gewalt nehmen.« Da richtete sich Neneferkaptah auf seinem Lager auf und sagte: »Bist du nicht Setna, dem diese Frau all dieses Leid erzählt hat, das du nicht zu ertragen brauchtest. Wirst du imstande sein, dieses Buch vermöge deiner Kraft als vortrefflicher Schreiber dir zu nehmen, oder willst du es dadurch (zu erringen suchen), daß du mich im Brettspiel überwindest? Laß uns um das Buch das Brettspiel Zweiundfünfzig spielen« (ein Spiel, das an unsere Dame erinnert). Da sagte Setna: »Ich bin bereit«.

Da stellte man das Spielbrett mit seinen (Spielsteinen in der Gestalt von) Hunden hin und sie spielten das Spiel Zweiundfünfzig. Neneferkaptah gewann dem Setna ein Spiel ab, er sprach einen Zauberspruch über ihn, er hielt das Spielbrett, das vor ihm stand, über ihn und ließ ihn bis zu den Beinen in die Erde versinken. Er tat das Gleiche bei dem zweiten Spiele, er gewann es Setna ab und ließ ihn bis zu der Hüfte in die Erde versinken. Er tat das Gleiche bei[134] dem dritten Spiele und ließ Setna bis zu den Ohren in die Erde versinken. Da schlug Setna den Neneferkaptah mit seiner Hand, Setna rief seinen Bruder An-Hor-erru, den die Menchart geboren hatte und sagte: »Steige ohne Verzug hinauf auf die Erde, berichte dem Pharao alles, was mir begegnet ist und bringe die Talismane meines Vaters, des Gottes Ptah, und meine Zauberbücher hierher.«

An-Hor-erru stieg ohne Verzug auf die Erde hinauf und berichtete dem Pharao alles, was Setna begegnet war. Der König sagte: »Bringe ihm die Talismane seines Vaters, des Gottes Ptah!« An-Hor-erru stieg ohne Verzug wieder in das Grab hinunter, er legte die Talismane auf den Körper des Setna, im gleichen Augenblicke erhob dieser sich aus der Erde. Setna streckte seine Hand aus nach dem Buche und ergriff es. Als Setna nunmehr (mit dem Buche) aus dem Grabe hinausging, da ging Licht vor ihm her und Finsternis folgte ihm nach. Ahure aber weinte und sagte: »Preis sei dir, du Herr der Finsternis (die jetzt über uns kommt); lebe wohl, du Herr des Lichtes (das uns mit dem Buche verläßt); alle Kraft ist aus unserem Grabe gegangen.« Neneferkaptah aber sagte zu Ahure: »Sei nicht betrübten Herzens, ich werde dafür sorgen, daß er das Buch hierher zurückbringt. Dabei soll er einen gabelförmigen Stock in der Hand halten und auf dem Kopfe ein Feuerbecken tragen.«

Setna stieg aus dem Grabe auf die Erde hinauf und verschloß hinter sich das Grab genau so, wie es einst verschlossen gewesen war. Setna[135] begab sich zu dem Könige und erzählte dem Könige alle Dinge, die ihm wegen dieses Buches begegnet waren. Da sagte der König zu Setna: »Wenn du ein kluger Mann bist, so bringe dieses Buch (freiwillig) in das Grab des Neneferkaptah zurück, sonst wird er dafür sorgen, daß du es zurückbringen mußt und dabei einen gabelförmigen Stock in der Hand hältst und ein Feuerbecken auf dem Kopfe trägst.« Aber Setna hörte nicht auf ihn, vielmehr beschäftigte sich Setna mit nichts anderem mehr auf der Welt als damit, daß er die Schriftrolle, die das Buch enthielt, aufrollte und allen möglichen Menschen aus dem Buche vorlas.

Nachdem sich diese Ereignisse zugetragen hatten, da geschah es eines Tages, daß Setna bei dem Tempel des Ptah spazieren ging. Hier erblickte er eine Frau, die sehr schön war, und es gab keine Frau, die ihr an Schönheit gleich gekommen wäre, sie trug viele goldene Gegenstände an sich, junge Mädchen gingen hinter ihr her, und sie hatte zweiundfünfzig Bediente2 bei sich. Sobald Setna diese Frau erblickte, wußte er nicht mehr, wo auf der Welt er sich befinde. Setna rief seinen Diener und sagte ihm: »Gehe ohne Verzug an den Platz, an dem sich diese Frau befindet, und erkundige dich, welchen Standes sie ist.« Der Diener ging ohne Verzug an[136] den Platz, an dem die Frau sich befand, er rief die Dienerin, die hinter ihr herging, und befragte sie und sagte: »Wer ist das?« Sie sagte zu ihm: »Das ist Tabubuë, die Tochter des Priesters der Göttin Bast von Ânch-ta-ui (einem Stadtteil von Memphis), die hierher gekommen ist, um vor dem großen Gotte Ptah zu beten.«

Der Diener kehrte zu Setna zurück und berichtete ihm alle Worte ohne Ausnahme, welche die Dienerin ihm gesagt hatte. Da sagte Setna zu dem Diener: »Gehe hin und sage der Dienerin folgendes: Setna-Chamoïs, der Sohn des Königs User-maâ-Râ (es ist dies der Vorname Ramses II.) ist es, der mich sendet und dir sagen läßt: Ich werde dir (d.h. deiner Herrin, der Tabubuë) zehn Goldstücke geben, damit du eine Stunde mit mir verbringst. Wenn aber Gewalt nötig ist (um dich dazu zu veranlassen), so wird er (Setna) solche anwenden und wird dich an einen Ort bringen lassen, der so verborgen ist, daß kein Mensch in der Welt dich wiederfinden wird.«

Der Diener kehrte an den Platz zurück, an dem sich Tabubuë befand, er rief ihre Dienerin und sprach mit ihr. Diese aber antwortete entrüstet, geradeso als wäre das, was er sagte, eine Beleidigung. Tabubuë (die den Wortstreit gehört hatte) sagte aber zu dem Diener: »Höre doch auf, mit dieser verächtlichen Dienerin zu sprechen, komme hierher und sprich mit mir selbst.« Der Diener eilte an den Platz, an dem Tabubuë sich befand, und sagte ihr: »Ich werde dir zehn Goldstücke geben, damit du eine Stunde mit Setna-Chamoïs, dem Sohne des Königs User-maâ-Râ, verbringst. Wenn aber, um das zu erreichen,[137] Gewalt nötig ist, so wird er diese anwenden und dich an einen Ort bringen lassen, der so verborgen ist, daß dich kein Mensch in der Welt wiederfinden wird.« Da sagte Tabubuë: »Gehe hin und sage dem Setna: Ich bin eine Priesterin, ich bin keine gewöhnliche Person. Wenn du das, was du wünschest, mit mir tun willst, dann mußt du nach der Stadt Bubastis, in mein Haus kommen. Dort ist alles vorbereitet und dort kannst du mit mir das tun, was du tun möchtest, ohne daß irgend ein Mensch mich (dabei) ausfindig machen kann, und ohne daß ich nach der Art eines Mädchens von der Straße handelte.« Der Diener kehrte zu Setna zurück und berichtete ihm alle Worte ohne Ausnahme, die ihm Tabubuë gesagt hatte. Setna sagte: »Das ist mir recht.« Aber jedermann in der Umgebung Setnas war hierüber entrüstet.

Setna ließ sich eine Barke bringen, er ging an Bord und gelangte ohne Verzug nach Bubastis, wo er sich nach dem Westen des Stadtteiles Kemi wendete. Dort fand er ein Haus, das war sehr hoch, eine Mauer lief um dasselbe, auf der Nordseite lag ein Garten, und vor dem Tore war eine Bank. Da frug Setna und sagte: »Wessen Haus ist denn das Haus da?« Da sagte man ihm: »Das ist das Haus der Tabubuë.« Setna ging in das Innere der Umwallung des Hauses und wandte sich nach dem Gartenhause. Man teilte das der Tabubuë mit, sie kam (vom obern Stocke, wo sich die Frauengemächer zu befinden pflegten) herunter, nahm Setna an der Hand und sagte ihm: »Ich schwöre bei dem Glücke des Hauses[138] des Priesters der Bast, der Herrin von Ânch-ta-ui, zu dem du gekommen bist, daß ich sehr erfreut bin. Komme mit mir herauf!«

Setna stieg mit Tabubuë die Treppe des Hauses herauf. Er fand das obere Stockwerk geschmückt und geziert, der Fußboden war mit echtem Lapislazuli und echtem Smaragd bedeckt, es standen da mehrere Ruhebetten, die waren mit feiner Leinewand bedeckt, und auf dem Kredenztisch standen viele goldene Schalen. Man füllte eine goldene Schale mit Wein, gab sie Setna in die Hand, und die Frau sagte ihm: »Wäre es dir gefällig, deine Mahlzeit (hier) einzunehmen.« Er antwortete ihr: »Das kann ich nicht (dazu bin ich zu verliebt)«. Da legte man wohlriechende Stoffe in die Räucherpfanne und brachte Salben herbei, wie man sie einem Könige zu bringen pflegt. Setna verbrachte einen vergnügten Tag mit Tabubuë, denn er hatte noch niemals etwas gesehen, was ihr gleich gekommen wäre.

Da sagte Setna zu ihr: »Laß uns das vollenden, um dessentwillen wir hierher gekommen sind.« Die Frau aber sagte zu ihm: »Du bist hier in dein Haus gekommen und dein Haus ist das Haus, in dem du dich befindest. Aber ich hin eine Priesterin, ich bin keine gewöhnliche Person. Wenn du mit mir das tun willst, was du mit mir tun möchtest, so mußt du mir schriftlich einen Besitz an Geld zusichern, und das muß sich beziehen auf alle Dinge und jeglichen Besitz, den du hast.« Er sagte zu ihr: »Man möge den Schreiber der Schule kommen lassen.« Man ließ diesen sofort herbeikommen, und Setna ließ ihr[139] schriftlich einen Besitz an Geld zusichern, der sich auf alle Dinge und jegliches Besitztum bezog, das ihm gehörte.

Eine Stunde verging, da teilte man Setna mit und sagte ihm: »Deine Kinder sind unten«. Er sagte: »Man möge sie heraufbringen.« Da stand Tabubuë auf und legte ein Gewand aus feiner Leinewand an, und Setna erblickte durch das Gewebe hindurch alle ihre Glieder und seine Begierde wurde noch stärker als sie schon vorher gewesen war. Setna sagte zu Tabubuë: »Laß mich das vollenden, um dessentwillen ich hierher gekommen bin.« Sie sagte zu ihm: »Du bist hier in dein Haus gekommen und dein Haus ist es, in dem du dich befindest. Aber ich bin eine Priesterin, ich bin keine gewöhnliche Person. Wenn du mit mir das tun willst, was du tun möchtest, dann wirst du veranlassen, daß deine Kinder das Schriftstück unterschreiben, welches du mir gegeben hast, damit sie nicht später mit meinen Kindern wegen deiner Güter Streit anfangen.« Er ließ seine Kinder herbeiführen, und ließ sie das Schriftstück unterschreiben.

Setna sagte zu Tabubuë: »Laß mich das vollenden, dessentwegen ich hierher gekommen bin.« Sie sagte zu ihm: »Du bist hier in dein Haus gekommen, und dein Haus ist es, in dem du dich befindest. Aber ich bin eine Priesterin, ich bin keine gewöhnliche Person. Wenn du mit mir das tun willst, was du tun möchtest, so lasse deine Kinder töten, damit sie nicht später mit meinen Kindern wegen deiner Güter Streit anfangen.« Setna sagte: »Man möge an ihnen die abscheuliche Tat vollbringen, die dir dein Herz eingegeben[140] hat.« Sie ließ seine Kinder vor seinen Augen töten, sie ließ sie aus dem Fenster den Hunden und Katzen zuwerfen. Diese fraßen ihr Fleisch, und Setna hörte sie, während er mit Tabubuë trank. Setna sagte zu Tabubuë: »Laß uns das vollenden, dessentwegen wir hierher gekommen sind, denn alles das, was du mir als dein Verlangen gesagt hast, das habe ich für dich getan.« Da sagte sie ihm: »Begib dich dort in jenen Raum!« Setna ging in den Raum und legte sich auf ein Ruhebette von Elfenbein und Ebenholz, damit seine Liebe ihren Lohn empfinge. Tabubuë legte sich neben Setna. Setna streckte seine Hand aus, um sie zu berühren, da riß sie ihren Mund weit auf und stieß einen lauten Schrei aus.

Als Setna (der bei dem Schrei der Tabubuë, die sich dabei als Gespenst entpuppte, vor Schrecken in Ohnmacht gefallen war) erwachte, war er in einem heißen Raum, er war nackend, kein einziges von all den Kleidungsstücken, die man auf Erden zu tragen pflegt, bedeckte ihn. So verging eine Stunde, dann sah Setna einen Mann auf einer Erhöhung stehen, und unter den Füßen des Mannes befanden sich zahlreiche Leute, und der Mann sah wie ein König aus. Setna wollte sich erheben, aber er konnte sich nicht erheben, denn er schämte sich, da er kein Gewand anhatte. Da sprach der König: »Was bedeutet das, daß du dich in solcher Gestalt befindest?« Setna sagte: »Das war Neneferkaptah, der mir alle diese Dinge angetan hat.« Der König sagte: »Gehe nach Memphis, denn siehe! deine Kinder verlangen nach dir,[141] sie stehen auf ihren Füßen (lebendig) vor dem Könige.«

Da sagte Setna vor dem Könige: »O du mein großer Herr, mein König! Möge dir die Lebensdauer des Sonnengottes Râ beschieden sein! Auf welche Weise soll ich nach Memphis kommen, da mich keinerlei irgendwie geartetes Gewand bedeckt?« Der König rief einen Diener, der dabei stand und ließ dem Setna ein Gewand geben. Der König sagte dann: »Setna, gehe nach Memphis, denn siehe! deine Kinder leben, siehe! sie stehen auf ihren Füßen vor dem Könige.«

Setna ging nach Memphis, er umarmte seine Kinder, er fand sie am Leben (ihre Tötung hatte also auf zauberischer Vorspiegelung beruht). Der König (Ramses II., der vorher erschienene König war offenbar Neneferkaptah gewesen, der diese Gestalt angenommen hatte) sagte: »War es nicht Betrunkenheit, die dich zu allen diesen Taten veranlaßt hat?« Setna erzählte alle die Dinge, die ihm mit Tabubuë und Neneferkaptah begegnet waren. Der König sagte: »Setna! ich habe bereits früher mein möglichstes für dich getan als ich dir sagte: Sie werden dich umbringen, wenn du dieses Buch nicht an die Stelle, von der du es fortgenommen hast, zurückbringst. Aber bis jetzt hast du nicht auf mich gehört. Lasse jetzt dieses Buch dem Neneferkaptah zurückbringen, und nimm dabei einen gabelförmigen Stock in die Hand und trage ein Feuerbecken auf dem Kopfe.«

Da ging Setna von dem Könige fort und trug eine Gabel und einen Stock in der Hand und ein Feuerbecken auf dem Kopfe, er stieg[142] hinab in das Grab, in dem sich Neneferkaptah befand. Da sagte Ahure zu ihm: »Der große Gott Ptah ist es, der dich heute hierher geführt hat.« Neneferkaptah aber lachte und sagte: »So geschieht denn jetzt das, was ich dir bereits früher vorher gesagt hatte.« Setna und Neneferkaptah unterhielten sich miteinander und da fand Setna, daß, während sie sprachen, das Sonnenlicht (das von dem Buche ausging) in dem ganzen Grabe war. Ahure und Neneferkaptah unterhielten sich freundlich mit Setna. Setna sagte: »Neneferkaptah! Gibt es nicht irgend etwas, was du unangenehm empfindest?« Da sagte Neneferkaptah: »O Setna! du weißt, daß Ahure und ihr Kind Merab in Koptos (begraben) sind. Gleichzeitig weilen sie, Dank der (Zauber)kraft eines guten Schreibers, hier in diesem Grabe. Unterziehe du dich doch der Mühe nach Koptos zu gehen und sie (auch körperlich mit ihren Mumien) hierher zu bringen«.

Setna stieg aus dem Grabe hinauf auf die Erde, er trat vor den König und erzählte vor dem Könige alles, was ihm Neneferkaptah gesagt hatte. Der König sagte: »Setna! Gehe nach Koptos und bringe Ahure und ihr Kind Merab (hierher nach Memphis) zurück.« Setna sagte vor dem Könige: »Man möge mir die Königliche Barke samt ihrer Bemannung zur Verfügung stellen.« Man übergab ihm die Königliche Barke samt ihrer Bemannung, er schiffte sich ein, er segelte fort, er gelangte ohne Verzug nach Koptos. Man meldete dies auch dieses Mal den Priestern der Isis von Koptos und dem Oberpriester der Isis.[143]

Siehe! Da kamen diese ihm entgegen an den Nil hinunter, sie führten ihn an das Ufer, und er ging mit ihnen das Ufer hinauf. Er trat in den Tempel der Göttin Isis von Koptos und des Gottes Harpocrates ein. Er ließ einen Stier, Gänse und Wein herbei bringen und brachte ein Opfer und eine Spende vor Isis von Koptos und vor Harpocrates dar. Dann begab er sich mit den Priestern der Isis und dem Oberpriester der Isis in die Gräberstadt von Koptos. Sie brachten dort drei Tage und drei Nächte zu und suchten in den Gräbern, die in der Gräberstadt von Koptos sich befanden. Sie wendeten die (umgestürzten) Grabsteine der Schreiber des Lebenshauses (wie man einen Teil des Tempels zu nennen pflegte) um und lasen die Inschriften, die auf ihnen standen. Aber die Grabstätten, in denen Ahure und ihr Kind Merab ruhten, die fanden sie nicht.

Da merkte Neneferkaptah, daß sie die Ruhestätten der Ahure und ihres Kindes Merab nicht fanden. Er erhob sich (von den Toten) in der Gestalt eines Greises, eines Priesters von sehr hohem Alter und trat Setna entgegen. Setna erblickte ihn, und da sagte Setna zu dem Greise: »Du hast das Aussehen eines alten Mannes. Kennst du da nicht vielleicht die Ruhestätten, in denen sich Ahure und ihr Kind Merab befinden?« Der Greis sagte zu Setna: Der Vater des Vaters meines Vaters sagte (einst) zum Vater meines Vaters: »Der Vater [des Vaters] meines Vaters sagte zum Vater meines Vaters: Die Ruhestätten der Ahure und ihres Kindes Merab liegen in der Südecke der Behausung des Priesters ...«[144] (Das Haus dieses Priesters, dessen Name in dem Papyrus zerstört ist, ist also teilweise über den Gräbern der Genannten errichtet).

Setna sagte zu dem Alten: »Vielleicht hat dich dieser Priester einmal geschädigt und (nun lügst du, die Gräber wären unter seinem Hause und) willst nun deswegen sein Haus zerstören lassen.« Der alte Mann sagte zu Setna: »Man möge mich bewachen während man das Haus des Priesters zerstört, und wenn man dann nicht Ahure und ihr Kind Merab unter seiner Südecke findet, dann möge man mir eine schimpfliche Strafe zufügen.« Man bewachte den Priester und entdeckte dann die Ruhestätte der Ahure und ihres Kindes Merab unter der Südecke des Hauses des genannten Priesters. Setna ließ diese vornehmen Persönlichkeiten (Ahure und Merab) zu der Königlichen Barke bringen und ließ die (bei der Ausgrabung zerstörte) Priesterwohnung wieder in ihrer alten Gestalt aufbauen. Dann ließ Neneferkaptah den Setna erkennen, daß er es gewesen war, der nach Koptos gekommen wäre, um ihn die Ruhestätte, in der Ahure und ihr Kind Merab ruhten, finden zu lassen.

Setna schiffte sich auf der Königlichen Barke ein, er segelte fort und gelangte ohne Verzug mit seiner ganzen Begleitung nach Memphis. Man teilte dies dem Könige mit, und der König stieg zu dem Nile zu der Königlichen Barke hinab und ließ diese vornehmen Persönlichkeiten in die Grabstätte bringen, in der sich Neneferkaptah befand. Ihre oberirdische Grabkammer (in der man sich an Festtagen zur Darbringung der Totenopfer zu versammeln pflegte) ließ er sorgfältig verschließen.[145]

Das ist die ganze Erzählung, welche die Geschichte von Setna-Chamoïs und von Neneferkaptah und von seiner Frau Ahure und von ihrem Kinde Merab berichtet. Sie wurde (in dieser Abschrift) niedergeschrieben im Monate Tybi des fünfzehnten Regierungsjahres (des augenblicklich auf dem Throne sitzenden Pharaos, dessen Namen der Abschreiber aber nicht verzeichnet hat).

1

Bei der folgenden Aufzählung hat der Erzähler, wie aus dem Zusammenhange und aus der Schilderung der Auffindung des Buches hervorgeht, die Reihenfolge der Kisten verwechselt, die innerste ist die goldene, die äußerste die eiserne.

2

Es sind dies offenbar die Mensch gewordenen Spielbrettsteine, die die Frau, die dem Setna Verderben bringen soll, begleiten. Die Frau selbst wird, nach Ansicht des Erzählers, Ahure sein, die hier nach Anleitung des Neneferkaptah den Setna zwingen will, das Zauberbuch zurückzubringen.

Quelle:
Wiedemann, Alfred: Altägyptische Sagen und Märchen. Leipzig: Deutsche Verlagsactiengesellschaft, 1906, S. 117-146.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Dulk, Albert

Die Wände. Eine politische Komödie in einem Akte

Die Wände. Eine politische Komödie in einem Akte

Diese »politische Komödie in einem Akt« spiegelt die Idee des souveränen Volkswillen aus der Märzrevolution wider.

30 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon