Die Herde in der Höhle.

[132] Dschuha hatte einen Onkel von Vaters Seite. In die Frau, die sein Onkel geheiratet hatte, war Dschuha verliebt, und diese gewährte ihm auch ihre Gunst. Da verstiess sie sein Onkel und nahm eine andere Frau und warnte sie mit den Worten: »Dschuha ist ein Taugenichts; hüte dich ja, dass er sich dir naht, und du ihm irgend eine Gunst gewährest!« – Dschuha hütete nun die Schafe dieses Onkels. Wenn er abends mit den Schafen heimkam und die Frau seines Onkels anzureden versuchte, da wies sie ihn allemal schnöde ab. Als Dschuha aber eines Tages die Schafe weidete, kam er an ein unterirdisches Gewölbe; dahinein trieb er die Schafherde und verrammelte dann den Eingang. Er begab sich nun zu seinem Onkel und sprach zu ihm: »Die Schafe sind fort!« Sein Onkel, der Ärmste, machte sich auf und suchte mit seiner Frau nach den Schafen; die Schafe aber staken in dem unterirdischen Gewölbe. Als die Suchenden nahe an das Gewölbe kamen, da begann auf einmal Dschuha für sich hin zu reden. Sein Onkel fragte: »Was redest und sprichst du da?« Dschuha entgegnete: »Die Vögel sprechen mit mir.« Sein Onkel fragte weiter: »Was sagen sie dir denn?« Dschuha antwortete: »Die Worte, die mir die Vögel sagen, kann ich dir unmöglich wiederberichten, sie schicken sich nicht!« Sein Oheim dachte eine Weile nach, dann begann er: »Sag es mir! Es thut weiter nichts!« Da erwiderte Dschuha: »Die Vögel haben mir gesagt: ›Wenn du die Frau deines Onkels wirst küssen, wirst die Schafe du finden müssen!‹« Da rief sein Onkel: »Also, Dschuha, ich werde die Schafe finden, wenn ich dir meine Frau (zum Küssen) überlasse?« Dschuha erwiderte: »Ja, bei Gott! Wahrhaftig!«[132] Hierauf sprach sein Onkel: »Nun, wohlan, nimm sie dort ins Gebüsch und küss dich satt an ihr!« Dschuha nahm jene mit ins Gebüsch und küsste sich an ihr satt. Als er das gethan hatte, verliess er das Gebüsch und begann wieder ein Selbstgespräch. Sein Onkel fragte ihn: »Was hat dir der Vogel jetzt gesagt?« Dschuha entgegnete: »Er hat mir mitgeteilt, wo sich die Schafherde befindet, nämlich dort in dem unterirdischen Gewölbe.« Sein Onkel fragte ihn wieder: »In Wahrheit? Oder lügst du mir etwas vor?« Bald gelangte man an das unterirdische Gewölbe. Dschuha öffnete den Schafen und liess sie heraus; er sprach: »Ja, Onkel, da haben wir die Schafe wiedergefunden!« Als man schliesslich nach Hause gelangte, sprach der Onkel Dschuha's zu seiner Gemahlin: »Dieser Dschuha ist ein Taugenichts; er verspottet uns und macht sich über uns lustig!« Hiermit jagte er Dschuha fort.

Quelle:
Stumme, Hans: Tunisische Märchen und Gedichte. Leipzig: Hinrich: 1893, S. 132-133.
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