98. Perseus.

[133] Es war einmal ein König, der herrschte über ein Land, und dem war prophezeit worden, daß er von einem Enkel getötet werden würde, der noch nicht geboren sei. Aus diesem Grunde warf er alle Knaben, die seine zwei Töchter bekamen, ins Meer und ersäufte sie.

Der dritte Knabe aber, den er ins Meer warf, ertrank nicht, denn der Wellenschlag warf ihn an das Ufer des Meeres. Dort fanden ihn ein paar Hirten und nahmen ihn mit in ihren Pferch und gaben ihn ihren Weibern, um ihn groß zu ziehen.

Es verging die Nacht, es verging der Tag, und der Knabe wuchs bis in sein zwölftes Jahr und ward sehr schön und kräftig.[133]

Zu dieser Zeit hatte sich eine Lubia im Lande des Königs gezeigt, die alle Wasser hatte versiegen lassen; und es war prophezeit worden, daß die Lubia die Wasser nicht eher wieder fließen lassen würde, bis sie nicht die Tochter des Königs gefressen hätte.

Wollte der König, oder wollte er nicht, es blieb ihm keine Wahl, er mußte sich entschließen, das Mädchen zu geben, damit sie die Lubia fräße, und er schickte sie und ließ sie an einen Ort binden, wo die Lubia sich aufhielt.

Denselben Tag ging auch der Jüngling dort vorbei, den die Hirten erzogen hatten, und als er die Tochter des Königs sah, so fragte er sie, warum sie dort sitze und weine; und diese erzählte ihm, weswegen sie der Vater hierher geschickt habe.

»Fürchte dich nicht, « sagte er hierauf, »halte dich ruhig und habe genau Acht, wenn die Lubia herauskommt, dann rufe mich, denn ich will mich verstecken.«

Jener versteckte sich nun hinter einem Felsen und setzte eine Mütze auf, die ihn bedeckte, so daß er nicht sichtbar war.

Über ein Weilchen kam die Lubia heraus, und das Mädchen rief leise dem Jüngling, herbeizukommen, und dieser kam hinter dem Felsen hervor, und als sich die Lubia näherte, schlug er ihr mit der Keule dreimal auf den Kopf, und die Lubia fiel sterbend nieder. In demselben Augenblick fingen die Wasser wieder an zu fließen.

Er aber nahm den Kopf der Lubia und ließ die Tochter des Königs ziehen, ohne daß diese seinen Kummer erfuhr.

Als nun das Mädchen zum König kam und erzählte, wie sie von der Lubia befreit worden, da ließ der König das Gerücht verbreiten, daß der, welcher die Lubia getötet habe, zu dem Könige kommen solle, denn er wolle ihn zu[134] seinem Sohne machen und ihm die Tochter zum Weibe geben.

Als das der Jüngling hörte, ging er zum König und zeigte ihm den Kopf der Lubia und nahm das Mädchen zum Weibe, das er von ihr befreit hatte, und es wurde große Hochzeit gefeiert.

Während sie spielten und sprangen, warf der Jüngling seine Keule und traf, ohne zu wollen, den König und tötete ihn, und die Prophezeiung wurde erfüllt, und der Jüngling selbst wurde König. – Dort war ich, fand aber nichts.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 133-135.
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