102. Taubenliebe.

[151] Es war einmal ein König, der hatte nur eine einzige Tochter, und diese tat den ganzen Tag nichts als sticken, sie hatte keine Gespielin und ging auch nicht aus dem Hause, sondern saß beständig auf ihrer Stube und arbeitete. Vielmals sprach ihre Mutter zu ihr: »Höre, mein Kind, lasse dich doch endlich verheiraten, wir wollen dir den und den Prinzen, oder den und den jungen Großen zum Manne geben.« Aber das Mädchen sagte stets Nein und wollte nichts vom Heiraten wissen.

Während sie nun eines Tages wieder allein auf ihrem Zimmer saß und stickte, kam ein Täubchen zum Fenster[151] hereingeflogen und flatterte um ihren Stickrahmen. Die Prinzessin fing es und ließ es wieder los, fing es wieder und liebkoste es und hatte große Freude an ihm. Nach einer Weile fragte das Täubchen sie: »Hast du mich lieb?« Und sie antwortete: »Jawohl habe ich dich lieb.« Darauf sprach das Täubchen: »Wenn du mich wirklich lieb hast, so halte für morgen eine Schüssel mit Milch bereit, und dann sollst du sehn, was ich für ein schöner Mann bin.« Und nachdem es dieses gesagt hatte, flog es weg.

Die Prinzessin ließ sich am andern Morgen vom Hirten einen Eimer voll Milch bringen, schüttete sie in eine Schüssel und wartete auf das Täubchen. Als es nun geflogen kam und die Milchschüssel sah, tauchte es sich in dieselbe, ließ die Federn in der Milch und stieg als ein Jüngling heraus, der so schön war, daß die Prinzessin ihm sogleich um den Hals fiel und ihn küßte. Der aber sprach: »Setze dich zuvor und höre vorerst meine Bedingungen und dann kannst du mich küssen.« Als sie sich gesetzt hatten, fuhr er fort: »Die erste Bedingung ist, daß du deinen Eltern niemals meine wahre Gestalt verrätst, und die zweite ist, daß du drei Jahre wartest, bis ich zurückkehre. Wenn du es aber irgend jemandem verrätst, dann komme ich nicht wieder.« Darauf erwiderte das Mädchen: »Alles das will ich getreulich halten.« Und nun wechselten sie ihre Ringe, und der Jüngling tauchte sich wiederum in die Milch und flog als Taube davon.

Von da an kam der Jüngling täglich als Taube zu ihr, koste mit ihr und flog als Taube wieder fort. Darüber vergingen zwei Jahre, und während dieser ganzen Zeit lag die Königin ihrer Tochter an, daß sie sich doch verheiraten solle, und wurde täglich dringender; die Prinzessin aber widerstand ihr ebenso hartnäckig, bis sie es[152] eines Tages nicht mehr aushalten konnte und ihr das Geheimnis der Taube verriet und ausrief: »Quäle mich nicht länger, liebe Mutter, denn ich habe bereits einen jungen Mann zum Bräutigam, und einen zweiten wie den gibt es auf der ganzen Welt nicht.«

Aber von Stund an kam die Taube nicht mehr zum Mädchen. Das wartete einen Tag um den andern, eine Woche um die andere, einen Monat um den andern, aber all ihr Warten war vergebens, die Taube kam nicht mehr, weil das Mädchen ihr Geheimnis nicht bewahrt hatte. Da wurde das Mädchen immer trauriger, sie weinte und klagte den ganzen Tag und sprach zu ihrem Vater: »Ich will mein Täubchen, schafft mir mein Täubchen, oder ich sterbe vor Kummer.« Der Vater suchte sie zu trösten und sprach: »Mein Kind, tue nicht so verzweifelt, sieh' dir doch diesen Königssohn und jenen jungen Großen an, die dich alle verlangen, nimm einen von diesen und schlage dir deinen Taubenmann aus dem Kopfe.« »Nein,« rief das Mädchen, »entweder diesen, oder ich sterbe. Laß mir drei Paar eiserne Schuhe und drei Stäbe machen, ich will durch die ganze Welt ziehen und nicht ruhen, bis ich ihn gefunden habe.«

Da dachten die Eltern: Sowieso haben wir sie verloren, wir wollen ihr also den Willen tun. Sie ließen alles machen, was sie verlangt hatte, und gaben es ihr, und sie zog es an und zog fort. Sie wanderte ohne Unterlaß drei Jahre lang, und wem sie unterwegs begegnete, den fragte sie nach dem Täubchen, aber niemand hatte es gesehen, und nachdem die drei Jahre um waren, kehrte sie in das Vaterhaus zurück.

Als das Mädchen fortging, da ließ der König aus Kummer um seine Tochter den ganzen Palast schwarz anstreichen, und sowie sie zurückkam, verbrannt von der[153] Sonne und abgemagert von den Mühen der Reise, ging sie auf ihre Stube und schloß sich ein. Als ihr Vater an die Türe klopfte, machte sie ihm auf und sprach: »Vater, laß ein großes Badehaus bauen und dann im Lande bekanntmachen, daß alle Welt, arm und reich, sich darin baden könne, daß mir aber dann ein jeder eine Geschichte erzählen müsse, damit mir mein Kummer vergehe.« Da tat der Vater, was seine Tochter verlangt hatte, und als das Bad fertig war, kamen groß und klein, arm und reich, um sich darin zu baden, und ein jeder ging dann zur Prinzessin und erzählte ihr eine Geschichte.

In der Königsstadt lebte aber eine alte, blutarme Frau, welche eine Tochter hatte, und als diese von dem Bade hörte, sprach sie zu ihrer Mutter: »Liebe Mutter, erlaube mir, auch baden zu gehen und dann der Prinzessin eine Geschichte zu erzählen.« Die Mutter schlug es ihr anfangs ab, weil sie so arm wären, aber das Mädchen ließ mit Bitten nicht nach und bat so lange, bis sie die Mutter gehen ließ.

Das Mädchen nahm aber vorher den Wasserkrug und ging zur Quelle, um Wasser zu holen, damit ihre Mutter trinken könne, bis sie zurückkäme. Wie sie nun so zur Quelle ging, da schritt ein Hahn vor ihr her, der Holzschuhe an den Füßen trug.

Als das Mädchen den Hahn und seine Holzschuhe erblickte, wunderte sie sich sehr und sprach bei sich: ich will ihm nachgehn und sehn, wo er hingeht. Sie folgte ihm also, mit ihrem Kruge auf dem Rücken, und sah, wie der Hahn zuerst in einen Garten ging und von allen Früchten und Gewächsen desselben abbrach und in seinen Korb legte: Salat, Zwiebeln, Knoblauch, Apfelsinen, und vieles andere.

Als der Hahn aus dem Garten kam, trug er seinen[154] Korb nach Hause, und das Mädchen folgte ihm und schlich sich in das Haus und versteckte sich. Da sah es, daß in der Mitte desselben eine große Butte mit Milch stand, und nach einer Weile kamen elf Tauben herangeflogen, tauchten sich in die Milch, ließen dort ihre Federn und stiegen als junge Männer heraus, die so schön wie die Engel waren.

Da kam auch eine zwölfte Taube angeflogen, die tauchte sich nicht in die Milch, sondern setzte sich abseits. Da sprachen die Jünglinge zu ihr: »Wenn du nun auch verheiratet wärest, so könntest du mit uns sein, aber deine Braut hat dein Geheimnis ausgeplaudert, und darum kannst du dich nicht mehr verwandeln.« Die Taube antwortete: »Sie hat das Geheimnis ausgeplaudert, dafür habe ich aber auch sie und die Ihrigen dahin gebracht, daß sie ihr Schloß und ihre Herzen schwarz gefärbt haben, und daß jene drei Jahre lang vergebens nach mir in der Welt herumlaufen mußte.«

Als das Mädchen dieses Gespräch gehört hatte, schlich sie sich leise weg, vergaß in ihrer Freude den Krug zu füllen, eilte nach Hause, setzte dort den leeren Krug ab und rief: »Mutter, nun habe ich eine sehr schöne Geschichte für die Prinzessin,« und lief dann ins Schloß. Weil aber andere Leute bei der Prinzessin waren, mußte sie dort übernachten und kam erst am andern Morgen vor.

Als sie vor die Prinzessin trat, sprach sie: »Hohe Frau, ich kann dir eine sehr schöne Geschichte erzählen, die sich gestern zugetragen.« »So erzähle sie, mein Kind,« erwiderte diese, »ich will dir zuhören.« Darauf erzählte ihr das Mädchen haarklein, was sie gesehn und gehört hatte. Und als sie fertig war, rief die Prinzessin: »Ach, mein Kind, du hast sehr wohl daran getan, daß du zu mir gekommen[155] bist, aber nun komme rasch und führe mich in jenes Haus.«

Da ging das Mädchen voraus, und die Prinzessin folgte ihr nach; und als sie zu jenem Hause kamen, versteckte sich die Prinzessin hinter die Türe und wartete, bis die Tauben kamen.

Zuerst kamen die elfe, tauchten sich in die Milch und verwandelten sich; dann kam auch die zwölfte und setzte sich abseits, und als die Prinzessin hörte, wie sie von den andern verhöhnt wurde, sprang sie hervor und fiel ihr um den Hals. Davon nahm auch diese ihre Menschengestalt an, und nun heirateten sie einander und leben glücklich und zufrieden bis auf den heutigen Tag.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 151-156.
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