1. Wie die Warrau auf die Erde kamen

Im Anfang wohnten die Warrau in einer schönen Gegend über dem Himmel. Außer ihnen gab es dort nur Vögel, die ihren jungen Jägern zur Beute wurden.

Einer von ihnen, mit Namen Okonorote, verfolgte eines Tages einen Vogel. Er schoß nach ihm, aber der Pfeil verfehlte sein Ziel und verschwand. Als er den Pfeil suchte, kam er an ein Loch, durch das er gefallen war. Er sah hinab und erblickte dort unten ausgebreitet unsere Welt mit Herden von Wildschweinen, zahlreichen Rehen und anderen Tieren, die ungestört weideten und umherzogen durch die grünen Wälder und Savannen. Da die Öffnung groß genug war, um hindurchzuschlüpfen, beschloß er, ein Tau oder eine Leiter aus Baumwolle zu verfertigen und hinabzusteigen. Mit Hilfe seiner Freunde wurde die Leiter fertiggestellt. Es dauerte viele Monate. Sie machten sie oben länger, wenn sie sahen, daß sie noch zu kurz war, bis sie hier unten in die Bäume einhakte. Dann wurde sie oben mit starken Streben festgebunden. Der mutige Okonorote kletterte daran hinab. Es war ein gefährliches Unternehmen, von oben zu kommen auf einer so gebrechlichen Leiter, die jeder Wind bewegen konnte.

Als er unten war, sah er sich verwundert um und betrachtete erstaunt das reiche Leben, die sonderbaren Vierfüßler und ihre Größe. Alles erschien seinen Augen wunderbar.

Er sah, wie die wilden Tiere ihre Beute verschlangen, und dachte, er könnte es auch wagen, eines der großen Tiere zu erlegen und zu verspeisen. So schoß er ein junges Reh. Er machte Feuer an mit zwei Stücken Holz und fand das Wildpret, eine ausgezeichnete Nahrung. Dann stieg er wieder hinauf, und das war eine furchtbare Anstrengung. Es war schwer, hinabzusteigen, aber hinaufzusteigen war noch schlimmer. Er brachte Wildpret mit von unten, nicht viel, aber[1] genug, um es seinen Stammesgenossen zu zeigen. Seine Worte und der Geschmack des Wildprets versetzten alle in Begeisterung.

»Wir wollen nicht hier bleiben. Die kleinen Vögel um uns her sind wenig nütze. Dort unten in dem Land, das Okonorote für die Warrau gefunden hat, werden wir Tiere zur Nahrung im Überfluß haben! Laßt uns gehen!«

So stiegen sie die Leiter hinab auf diese Welt hier unten. Alle waren damals jung – alte Leute gab es noch nicht. Die kleinen Kinder trugen sie, und alle kamen sicher hinunter, bis auf die letzte, eine dicke Frau, die eingekeilt in dem Loch stecken blieb, durch das die andern hinabgestiegen waren. Ihr Gatte unter ihr sah ihre Not und kletterte zurück, um ihr zu helfen. Aber er konnte sie nicht durchbekommen. Da wurde er schwindlig und stieg wieder hinunter, wo seine Stammesgenossen aufgeregt das Mißgeschick besprachen. Sie fragten alle, wie es sich zugetragen habe. Er konnte es auch nicht sagen. So blieb die Sache den Warrau rätselhaft.

Darauf fragten die Frauen tadelnd: »Ist es recht von dem Manne, herunterzukommen und nicht die ganze Nacht oben zu bleiben? Und der tapfere Okonorote, der schon einmal hinaufgeklettert ist, warum steigt er jetzt nicht hinauf mit ein oder zwei Männern, wenn der Gatte es ganz aufgegeben hat?«

Sie schraken alle zurück vor der Aufgabe, denn ein weiser Mann sagte:

»Gesetzt den Fall, ihr erreicht sie und könnt sie hindurchziehen, wird sie euch nicht allen den Tod bringen? Sie wird mit solcher Wucht herauskommen, daß ihr euch nicht halten könnt. Ihr werdet herabgeschleudert werden, und wir hätten unsere besten Männer verloren!«

So blieb die Frau oben, und die Leiter riß. So wird sie immer dort oben bleiben. Sie füllt das Loch aus, daher können wir niemals mehr in den Himmel hineinschauen.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 1-2.
Lizenz:
Kategorien: