[15] 5. Der schwarze Jaguar, Wau-uta und der zerbrochene Pfeil

Es war einmal ein Mann, der hatte zwei Schwäger. Während er ein rechter Pechvogel war, kehrten sie regelmäßig des Nachmittags mit reicher Jagdbeute heim. Da sagten sie: »Er hat doch kein Glück. Wir wollen ihn unterwegs verlieren!« Sie wollten ihn loswerden.

Eines Tages nahmen sie ihn mit in den Wald. Sie gingen alle drei zusammen, aber bald sagten sie ihm, er solle nach der einen Richtung gehen, während sie nach der anderen gingen. Sie verabredeten, sich an einem bestimmten Platz zu treffen.

Der Weg, den ihm die zwei schlechten Brüder gewiesen hatten, führte zum Lager von Tobe-horoanna, einem riesigen schwarzen Jaguar, aber das wußte der Mann nicht. Er ging fort und fort und kam zu einem breiten Pfad. Da rief er aus: »Wohin gehe ich jetzt?« Während er so mit sich[15] selbst sprach, hörte er etwas heranstürmen und wunderte sich, was das wohl sei. Er sollte sich nicht lange wundern, denn er sah Tobe-horoanna kommen. Da lief er, so schnell er konnte, auf einen riesigen Baum zu, der schwarze Jaguar hinter ihm her. So liefen sie immer rund um den Stamm herum, einer hinter dem andern her, bis es dem Manne gelang, die Hinterbeine des Tieres zu erreichen und ihm beide Fersen abzuschneiden. Da setzte sich der Jaguar nieder, denn er konnte nun gar nicht mehr laufen. Darauf schoß ihm der Mann seinen Pfeil durch den Nacken, brachte mit dem Messer die Arbeit zu Ende und ging nach Hause.

Die zwei Schwäger zweifelten inzwischen keinen Augenblick daran, daß sie ihn nie wiedersehen würden. Sie wußten ja, was für ein armseliger Jäger er war, und wohin sie ihn geschickt hatten. Daher waren sie bei seiner Heimkehr sehr überrascht und entschuldigten sich, um ihre schlechten Absichten zu verbergen, indem sie sagten: »Wir gingen an den verabredeten Platz, aber du warst nicht da. Wir riefen nach dir, aber wir erhielten keine Antwort. Da dachten wir, du wärest tot und gingen fort. Aber wir wollten gerade noch einmal nach dir sehen.« Natürlich war dies alles gelogen.

Als der Mann erzählte, daß er tatsächlich den Tobe-horoanna getötet habe, wollten es ihm die beiden Schwäger, sowie auch ihr alter Vater kaum glauben. Sie bestanden darauf, das er sie zu dem Platz führte. Sie gingen alle zusammen hin, und als sie aus einiger Entfernung den schwarzen Jaguar auf dem Boden liegen sahen, fürchteten sich alle näher zu gehen, außer dem einen, der ihn getötet hatte. Er sagte ihnen wieder, daß er »ganz ganz tot« sei, aber sie fürchteten sich noch immer. Da ging er dreist heran und trat auf den Kadaver, um ihnen zu zeigen, daß er die Wahrheit gesagt habe. Nun erst wagte der alte Mann sich zu nähern, seine beiden Söhne aber blieben ängstlich, und dann kehrten sie alle nach Hause zurück.

Nach ihrer Ankunft gab ihm der alte Schwiegervater noch eine Tochter zur Frau, so daß er nun zwei Weiber hatte.[16]

Die Schwäger bauten ihm ein größeres Haus, und er wurde fortan als Ai-jamo, als Häuptling der Niederlassung, anerkannt.

Nun genügte aber unserem Freunde der Ruhm nicht, den er sich erworben hatte, indem er das Land von Tobe-horoanna befreite, er wollte auch gern einen guten Ruf haben als geschickter Jäger auf alle anderen Tiere. Wen konnte er da besser um Rat fragen als Wau-uta, den Laubfrosch? Also wanderte er umher, bis er den Baum fand, in dem Wau-uta wohnte. Er stellte sich unter den Baum und rief ihr zu, ihm zu helfen. Er rief und rief, bis der Abend heraufdämmerte, aber er bekam keine Antwort. Dennoch rief er immer weiter und bat sie, ihn alle die Dinge zu lehren, die er so gern lernen wollte, und als die Nacht hereinbrach, begann er zu weinen. Er wußte ganz gut, daß sie herunterkommen würde, wenn er lange genug weinte, gerade wie eine Frau, die einen Mann einmal abgewiesen hat, doch endlich Mitleid bekommt, wenn sie ihn weinen hört.

Als er so wehklagend unter dem Baum stand, was kam da einhergezogen? Ein ganzer Zug Vögel, wohlgeordnet nach der Größe vom kleinsten bis zum größten. Der kleine Doroquara kam zuerst. Er pickte mit dem Schnabel auf die Füße des Mannes, um ihn erfolgreich zu machen, ihn zu jagen. Und so kamen der Reihe nach alle anderen Vögel bis zu den allergrößten. Wau-uta begann nämlich Mitleid mit ihm zu haben, aber das wußte er natürlich nicht. Als alle Vögel fertig waren, kamen alle Ratten der Reihe nach, je nach ihrer Größe. Ihnen folgten die Aguti, Paka, Rehe, Wildschweine usw. bis zum Tapir. Im Vorbeigehen streckte jedes Tier die Zunge heraus, leckte seine Füße und ging weiter. Dadurch brachten sie ihm Glück auf der Jagd nach ihresgleichen. In gleicher Weise kamen dann die Tiger, vom kleinsten bis zum größten. Alle nahmen die gleiche Handlung vor und gingen weiter. Zuletzt erschienen die Schlangen, taten wie die anderen und krochen weiter.[17]


5. Der schwarze Jaguar, Wau-uta und der zerbrochene Pfeil

Natürlich beanspruchte dieser Vorbeimarsch Zeit. Erst bei Tagesanbruch war er beendet. Da hörte der Mann endlich auf zu weinen. Im Tageslicht sah er jemand auf sich zukommen. Es war Wau-uta, die einen sonderbar aussehenden Pfeil trug. »Du warst es also, der die ganze Nacht lärmte und mich nicht schlafen ließ?« »Ja,« erwiderte der Mann, »ich war es.« »Nun,« sagte Wau-uta, »sieh einmal an deinem Arm herunter von der Schulter bis zur Hand!« Er blickte daran herunter und sah, daß sein ganzer Arm mit Schwamm bedeckt war. Er blickte auf seinen anderen Arm. Dort war es ebenso. Dieser Schwamm war es, der ihm immer Unglück gebracht hatte. Nun kratzte er ihn schleunigst ab.

Wau-utas Pfeil sah sehr merkwürdig aus. Er war in drei oder vier Stücke gebrochen, die nachträglich wieder zusammengefügt waren. Wau-uta gab ihn dem Manne und nahm seinen Pfeil dafür zum Tausch. Sie hieß ihn, den Pfeil auf den Bogen legen und nach einer dünnen Liane schießen, die weit entfernt hing. Der Pfeil traf sein Ziel.

Wau-uta legte den Pfeil wieder auf den Bogen und gebot ihm, in die Luft zu schießen. In welcher Richtung er immer seinen Pfeil abschoß, sobald er zur Erde kam, traf er irgend etwas, zuerst einen Doroquara und dann weiter, in derselben Reihenfolge, wie die Vögel seine Füße gepickt hatten, alle Vögel bis zum Hokko, jedesmal einen anderen Vogel. Dabei konnte er selbst nichts sehen, wenn er den Pfeil abschoß. Als er fortfuhr, nach allen Richtungen in die Luft zu schießen, fand er, daß er eine Ratte, ein Aguti getroffen hatte, usw., bis ein prächtiger Tapir seinem Pfeil erlag. Danach schoß er Tiger und Schlangen. Als all dies beendet war, sagte Wau-uta zu ihm, er dürfe den zerbrochenen Pfeil behalten, aber unter der Bedingung, daß er niemals zu irgend jemand ausplauderte, daß sie es gewesen sei, die ihn gelehrt hätte, ein so guter Schütze zu sein. Darauf trennten sie sich. Unser Freund kehrte nach Hause zurück zu seinen beiden Frauen. Sein Bratrost war immer gefüllt, und bald war[18] sein Ruf als glücklicher Jäger ebenso groß, wie sein Ruhm als Töter des Tobe-horoanna. Alle taten ihr Möglichstes, um das Geheimnis seines Erfolges herauszubekommen. Sie fragten ihn wiederholt, aber er weigerte sich, es zu sagen. So warteten sie ihre Zeit ab und überredeten ihn, ein großes Paiwari-Fest mitzumachen. Das alte Lied: Der Trunk brachte das Unheil; er löste seine Zunge. Da plauderte er aus, was geschehen war.

Am nächsten Morgen, nachdem er zum Bewußtsein erwacht war, wollte er seinen Pfeil holen, den Pfeil, den Wau-uta ihm geschenkt hatte, aber er fand ihn ersetzt durch seinen eigenen Pfeil, den er Wau-uta zum Tausch gegeben hatte. Von der Zeit an hatte er alles Glück verloren.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 15-19.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von

Gedichte

Gedichte

»Was soll ich von deinen augen/ und den weissen brüsten sagen?/ Jene sind der Venus führer/ diese sind ihr sieges-wagen.«

224 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon