[19] 6. Die Geschichte von Haburi

Vor langer Zeit lebten einmal zwei Schwestern allein zusammen. Sie hatten keinen Mann, der für sie sorgte.

Eines Tages fällten sie eine Mauritiapalme, um aus ihrem Mark Mehl herzustellen. Es war über dem Fällen spät geworden, deshalb ließen sie die weitere Arbeit und gingen nach Hause. Als sie am anderen Morgen an den Platz kamen, fanden sie das Mehl schon fertig zubereitet. Sie konnten sich nicht erklären, wie das zugegangen war. Am nächsten Tage war es ebenso – wieder fanden sie das Palmmark fertig bereitet. Und so geschah es ihnen wieder und wieder. Da beschlossen sie, eines Nachts zu wachen.

Neben der Mauritiapalme stand eine Assaïpalme, und um Mitternacht sahen sie, wie sich einer der langen Palmwedel allmählich weiter und weiter herabneigte, bis er die Schnittfläche der abgehauenen Mauritiapalme erreichte. Da liefen beide Schwestern herzu, hielten den Palmwedel fest und baten ihn inständig, sich doch in einen Mann zu verwandeln.[19] Er weigerte sich zuerst, aber als sie gar so sehr baten, tat er ihnen den Willen. Sein Name war Mayara-koto. Die ältere der Schwestern war nun glücklich, und im Laufe der Zeit bekam sie ein schönes Knäblein, das sie Haburi nannten.

Die beiden Frauen wohnten in der Nähe von zwei Teichen. Der eine Teich gehörte einem Jaguar, der andere gehörte ihnen, und aus ihm holten sie sich ihre Fische. Sie warnten Mayara-koto, niemals an den Teich des Jaguars zu gehen. Der Mann sagte jedoch: »In unserem Teich sind wenig Fische, in dem des Jaguars dagegen viele. Ich werde fischen gehen in seinem Teich!« Er tat, wie er gesagt hatte, aber der Jaguar kam des Weges, packte ihn und tötete ihn, weil er ihm seine Fische gestohlen hatte.

Danach nahm der Jaguar Mayara-kotos Gestalt an und kehrte zu den beiden Frauen zurück. Es war sehr spät, als er kam und sehr dunkel. Er brachte Mayara-kotos Tragkorb mit und auch die Fische, die der letztere ihm gestohlen hatte, bevor er ihn tötete. Der Jaguar stellte den Tragkorb vor dem Hause nieder, wie es Sitte ist, ging hinein und sagte den Frauen, er habe Fische mitgebracht. Beide Frauen waren erstaunt über seine rauhe, heisere Stimme. Er sagte dann, daß er sehr müde sei und sich in seine Hängematte legen wolle, sie sollten ihm Haburi bringen, er wolle auf ihn acht geben. Daraufhin brachten sie ihm das Kind. Er sagte ihnen auch, daß er schlafen wolle, sie sollten die Fische hereinbringen und kochen, aber sich nicht weiter um ihn kümmern.

Die Frauen kochten die Fische. Als sie gekocht waren, und die Frauen sie aßen, war der Mann eingeschlafen. Da fing er an sehr sonderbar und laut zu schnarchen, so laut, daß man ihn auf der anderen Seite des Flusses hätte hören können. Während er schnarchte, rief er den Namen des Mannes: »Mayara-koto!« Die beiden Frauen sahen einander an und lauschten. Sie sagten: »Unser Gatte hat niemals so geschnarcht, er hat nie zuvor seinen eigenen Namen gerufen!«[20]

Sie hörten sofort auf zu essen und sagten eine zur anderen, daß dieser Mann unmöglich ihr Gatte sein könne. Da überlegten sie, wie sie den kleinen Haburi aus den Armen des Mannes bekommen sollten, in denen er ruhte.

Sie machten ein Bündel aus Baumbast, schoben es vorsichtig unter das Kind und zogen es heraus. Dann machten sie sich eiligst mit ihm davon, während der Mann noch schnarchte mit dem Bastbündel im Arm. Sie nahmen auch ein Wachslicht mit und ein Bündel Feuerholz.

Auf ihrer Flucht hörten sie Wau-uta singen. Wau-uta war in jener Zeit eine Frau. Sie war eine Zauberin, und sie sang gerade zu ihrer Zauberrassel. Die beiden Frauen eilten vorwärts, denn sie wußten, daß sie bei Wau-uta in Sicherheit sein würden.

Inzwischen war der Jaguar-Mann aufgewacht, hatte das Bastbündel in seinem Arm gefunden anstatt des kleinen Haburi und sah, daß beide Schwestern fort waren. Da wurde er zornig. Er verwandelte sich zurück in Tiergestalt und sprang ihnen nach. Die Frauen hörten ihn kommen und eilten noch mehr. Sie schrien: »Wau-uta! Öffne die Tür!« »Wer ist da?« fragte Wau-uta. »Wir sind es, die zwei Schwestern.« Aber Wau-uta machte die Türe nicht auf. Da kniff die Mutter den kleinen Haburi ins Ohr, damit er schrie. Sowie Wau-uta das hörte, rief sie hinaus: »Was ist das für ein Kind? Ist es ein Mädchen oder ein Knabe?« »Es ist mein Haburi, ein Knabe,« antwortete die Mutter. Darauf öffnete Wau-uta sofort die Türe und sagte: »Kommt herein, kommt herein!«

Kaum waren alle im Hause, da kam der Jaguar. Er rief nach Wau-uta und fragte sie, wohin die zwei Frauen und das Kind gegangen seien. Aber Wau-uta log und sagte, sie hätte sie nicht gesehen, sie hätte niemand gesehen. Der Jaguar wußte aber durch seinen Geruchsinn, daß sie dort waren, und darum wartete er draußen und weigerte sich fortzugehen. Dies ärgerte Wau-uta. Sie wurde so zornig, daß sie ihm sagte, er möge nur seinen Kopf hereinstecken und[21] sich umschauen; wenn er die Frauen und das Kind sähe, könne er sie gleich fressen, wenn er wolle. Aber die Tür war mit großen Dornen bedeckt, und sowie der dumme Jaguar seinen Kopf hineinsteckte, schloß die alte Frau die Türe und tötete ihn so.

Die beiden Schwestern blieben dort und weinten viel. Sie trauerten um ihren Gatten. Sie weinten so viel, daß Wau-uta ihnen gebot, hinauszugehen auf das Feld, um Kassawa zu holen und Getränk zu bereiten. Da machten sie sich fertig und wollten Haburi mitnehmen, aber Wau-uta sagte: »Nein, ich kann gut nach dem Kinde sehen, während ihr fort seid.« So taten sie, wie ihnen gesagt war, und gingen fort auf das Feld.

Inzwischen ließ Wau-uta das Kind sich sogleich in einen Jüngling verwandeln und gab ihm die Flöte zum Blasen und die Pfeile zum Schießen.

Als die Mutter und die Tante zurückkehrten mit der Kassawa, hörten sie die Musik und sagten: »Es war kein Mann oder Knabe da, als wir das Haus verließen. Wer kann es sein? Es muß ein Mann die Flöte blasen.« Obgleich sie sich schämten, gingen sie hinein und sahen den Jüngling auf der Flöte blasen.

Sobald sie die Körbe vom Rücken abgestellt hatten, fragten sie nach Haburi. Wau-uta sagte, das Kind sei hinter ihnen hergelaufen, sobald sie zur Pflanzung gegangen seien, und sie hätte gedacht, es sei noch bei ihnen. Natürlich war dies alles gelogen. Die alte Wau-uta wollte Haburi gern schnell groß haben, weil sie ihn später zu ihrem Liebsten machen wollte. Sie betrog die beiden Schwestern weiter, indem sie so tat, als ob sie in der Umgebung des Hauses eifrig nach dem Kinde suche, aber sie richtete es so ein, daß sie zuerst zurückkam, und sagte zu Haburi, sie, Wau-uta, sei seine Mutter, und gab ihm genaue Weisungen, wie er sie behandeln müsse.

Haburi war ein ausgezeichneter Schütze; kein Vogel entkam seinem Pfeil. Wau-uta ließ sich von ihm alle großen Vögel[22] bringen, die er tötete, und seiner Mutter und Tante mußte er die kleinen geben, und zwar erst, wenn sie verdorben waren. Sie wollte dadurch die beiden Schwestern so ärgern, daß sie den Ort verließen. Aber das taten sie nicht. Sie suchten unaufhörlich die Umgegend ab nach ihrem kleinen Bübchen. So ging es lange Zeit.

Eines Tages jedoch fehlte Haburi zum erstenmal einen Vogel. Der Pfeil blieb in einem Zweig stecken, der über eine Bucht hing, in der seine Onkel, die Fischottern, ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten. Es war ein hübscher, sauberer Platz. Hier erleichterte sich Haburi und bedeckte den Kot mit Blättern. Danach kletterte er auf den Baum, um den Pfeil herabzuholen. Da kamen gerade die Fischottern an, schnupperten in die Luft und riefen: »Wonach riecht es hier? Unser nichtswürdiger Neffe Haburi muß in der Nähe sein!« Sie blickten um sich, herunter und herauf, und entdeckten ihn endlich in den Zweigen des Baumes. Da befahlen sie ihm herunter zu kommen. Dann setzten sie ihn auf eine Bank und sagten ihm, daß er ein sehr schlechtes Leben führe, daß die alte Frau gar nicht seine Mutter sei, sondern daß die beiden jungen seine Mutter und seine Tante seien. Sie sagten ihm, daß es sehr unrecht von ihm sei, daß er die Vögel so ungerecht verteile, und daß er es in Zukunft gerade umgekehrt machen und seiner rechten Mutter, der größeren der beiden Schwestern, die größten Vögel geben müsse. Sie rieten ihm auch, seiner rechten Mutter zu sagen, daß er sie nur aus Unkenntnis der Dinge so schlecht behandelt hätte, und daß es ihm leid täte.

Als Haburi an jenem Tage nach Hause kam, führte er aus, was ihm die Fischottern geraten hatten. Die schlechten kleinen Vögel gab er Wau-uta, und seiner Mutter schüttete er sein Herz aus. Dem armen Ding war es sonderbar zumute. Sie konnte sich nicht entschließen, plötzlich »mein Sohn« zu ihm zu sagen. Aber als er ihr erklärte, daß nur Wau-uta ihn so schnell zum Manne gemacht hätte, glaubte sie ihm und war getröstet.[23]

Als die alte Wau-uta dies alles hörte, geriet sie in große Wut. Sie packte Haburi im Nacken, blies ihm ins Gesicht und schrie, er müsse wahnsinnig geworden sein. So wütend und aufgeregt war sie, daß sie nichts essen konnte. Haburi ging am nächsten Morgen fort, wie gewöhnlich, und kehrte am Nachmittag zurück. Da gab er wieder seiner rechten Mutter die großen Vögel, die er geschossen hatte, und Wau-uta die beschmutzten und kleinen. Nun ließ ihm Wau-uta keine Ruhe mehr, wie man sich denken kann.

Daher beschloß Haburi fortzugehen. Er sagte seiner Mutter, daß sie alle drei fortgehen wollten. Er verfertigte ein kleines Kanu aus Bienenwachs, und als es fertig war, ließ er es am Ufer. Aber am anderen Morgen hatte es eine schwarze Ente fortgenommen. Da machte er ein neues kleines Kanu aus Lehm, dieses wurde von einer anderen Ente gestohlen. Inzwischen schlug er eine Pflanzung und rodete so schnell, daß die Frauen mit ihren Stecklingen nicht nachkommen konnten. Sie brauchten viel Kassawa für ihre Reise. Während die Frauen pflanzten, ging Haburi oft davon und machte ein Boot, immer wieder aus anderem Holz und von anderer Form, und immer wieder kam eine andere Art Ente und stahl es ihm. Endlich machte er ein Boot aus dem Holz des Samauma-Baumes, und dieses wurde ihm nicht gestohlen. So war Haburi der erste, der ein Boot machte und der die Enten lehrte, auf der Oberfläche des Wassers zu schwimmen, denn mit seinen Booten gelang es ihnen. Die Warrau sagen, daß jede Ente ihr besonderes Boot habe.

Das Boot aber, das Haburi gemacht hatte, war über Nacht ganz groß geworden. Er wies seine Mutter und seine Tante an, Lebensmittel ins Boot zu tragen für ihre bevorstehende Reise. Er selbst kehrte zur Pflanzung zurück und half der alten Wau-uta. Nach einiger Zeit schlüpfte er davon, ging zum Hause zurück, nahm seine Pfeile und seine Axt und eilte zum Ufer. Bevor er das Haus verließ, gebot er den Pfosten, ihn nicht zu verraten, denn in jenen Tagen konnten die Hauspfosten sprechen, und wenn der Eigentümer abwesend[24] war, konnte ein Besucher von ihnen erfahren, wo er sich aufhielt. Es war aber auch ein Papagei in dem Hause, und Haburi vergaß völlig, ihm Schweigen aufzuerlegen.

Als nun die alte Frau nach einiger Zeit Haburi vermißte, ging sie ins Haus, um ihn zu suchen. Sie fragte die Pfosten, sie blieben stumm. Der Papagei aber verriet ihn.

Da eilte Wau-uta zum Landungsplatz und kam gerade zur Zeit, um zu sehen, wie Haburi zu seiner Mutter ins Boot stieg. Sie klammerte sich an das Fahrzeug und schrie: »Mein Sohn, mein Sohn, du darfst mich nicht verlassen. Ich bin deine Mutter!« Und obgleich sie alle mit den Rudern nach ihr schlugen und ihr fast die Finger zerbrachen, ließ sie nicht los.

So sah sich Haburi gezwungen, wieder an Land zu kommen. Er ging mit Wau-uta zu einem hohlen Baum, in dem sich ein Bienennest befand. Er schlug den Baum um, schnitt ein Loch in den Stamm und gebot der Alten, hineinzukriechen und den Honig zu schlürfen. Sie liebte den Honig sehr. Obgleich sie die ganze Zeit bitterlich weinte bei dem Gedanken, Haburi zu verlieren, kroch sie doch durch die kleine Öffnung, die er sofort fest verschloß.

Dort findet man sie noch heute als den Wau-uta-Frosch, der nur in hohlen Bäumen vorkommt. Wenn man genau acht gibt, kann man noch sehen, wie geschwollen die Finger sind von den Ruderschlägen, als sie versuchte, das Boot festzuhalten. Auch hört man sie noch immer klagen über den verlorenen Liebhaber. Noch heute schallt ihr Ruf: Wang, Wang, Wang!

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 19-25.
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