[36] 11. Du sollst nicht stehlen

[36] Es waren einmal zwanzig Männer, die gingen zusammen auf die Wildschweinsjagd. Sie nahmen ihre Hängematten mit, denn sie gedachten einige Tage fortzubleiben. Sie fanden bald Fährten und verfolgten sie bis zum Abend. Dann schlugen sie ihr Lager auf. Am nächsten Morgen folgten sie den Fährten weiter bis zum Mittag. Da bemerkten sie eine Menge Lebensmittel, alle fertig zum Verzehren, Speise und Trank, Überfluß an allem, was ein Indianer sich nur wünschen kann. Einer fragte den anderen: »Wirst du davon essen?« Einige sagten: »Natürlich. Warum nicht? Ist es nicht alles für uns gerichtet?« Aber andere sagten: »Nein, es ist nicht für uns bestimmt. Wir wollen nicht essen, was uns nicht gehört.« Die Wünsche der Mehrheit siegten jedoch, und alle bis auf zwei aßen von der guten Kost.

Nachdem alles verzehrt war, nahmen sie die Fährte wieder auf, bis die Nacht hereinbrach, und sie abermals ihr Lager aufschlugen. Die zwei aber, die sich geweigert hatten mitzuessen, errichteten sich ihr Schutzdach ein wenig abseits von den anderen. Alle außer den zweien schliefen fest ein.

Während der Nacht kam der Waldgeist daher mit einem Licht in der Hand und näherte sich dem Platz, wo die achtzehn schliefen. Als er nahe an den ersten der Männer herangekommen war, löschte er das Licht, und indem er die Luft durch seine halbgeschlossene Hand sog, schlürfte er die Augen seines Opfers aus, gerade wie wir das Fleisch aus einer Krebsschere schlürfen. Dasselbe tat er der Reihe nach jedem der anderen siebzehn Männer, dann zog er sich zurück.

Die zwei, die abseits ihr Lager hatten, waren wach geblieben und hatten alles beobachtet, was geschehen war.

Früh am nächsten Morgen rief jeder der achtzehn beim Erwachen: »Ich bin blind! Ich bin blind!« Die armen Burschen[37] riefen nach den zwei anderen, die nicht mitgegessen hatten, und fragten sie, ob sie auch ihre Augen verloren hätten. Diese sagten zuerst »ja«, aber als sie immer wieder gedrängt wurden, die Wahrheit zu sagen, mußten sie schließlich gestehen, daß ihnen kein Übel widerfahren sei. Einige der erblindeten Männer empfanden ihr Unglück sehr schwer. Die einen hatten schwangere Frauen zu Hause, die anderen hatten kleine Mädchen – kleine Mädchen, die sie eines Tages zu ihren Frauen machen wollten. Diejenigen, die solche kleinen Mädchen besaßen, grämten sich sehr und sagten: »Wir haben kleine Mädchen zu Hause, und wir haben bis jetzt noch niemals etwas mit ihnen zu tun gehabt. Ach, ach, wenn wir nur Frauen aus ihnen gemacht hätten, bevor dieses Unglück uns traf!«

Um wieder nach Hause zu gelangen, baten nun die erblindeten Männer ihre unverletzten Gefährten, die Schnüre von all ihren Bogen zu lösen und zusammenzuknüpfen zu einem langen Seil. Die achtzehn hielten sich nun an diesem Seil fest, und die zwei Sehenden führten sie; so machten sie sich auf den Heimweg.

Aber die zwei führten sie nicht heimwärts, wie es ihnen gesagt worden war, sondern zu einem Teich, in dem eine Menge Piraifische lebte. Dort angekommen, ließen sie die Blinden sich im Kreise um das Wasser stellen und sagten zu ihnen, daß sie jetzt einen Fluß durchschreiten müßten; wenn sie einen Platsch ins Wasser hörten, sollten sie sofort vorwärts eilen. Darauf traten die zwei Führer zurück und warfen über die Köpfe ihrer blinden Gefährten einige schwere Holzstücke ins Wasser. Sowie diese ins Wasser platschten, sprangen die achtzehn blinden Männer vorwärts, um einer gegen den anderen zu stoßen in der Mitte des Teiches, wo die raubgierigen Fische sie anfielen und zerrissen. – So wurden sie gestraft dafür, daß sie Nahrung nahmen, die ihnen nicht gehörte.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 36-38.
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