[52] 14. Der Zauberarzt Makanaholo

[52] Keiner war so weit vorgeschritten in der Kunst der Zauberärzte, wie der Zauberarzt Makanaholo. Er erhob sich von der Erde, ging über die Bäume, ja, er gab sich Flügel, wenn er wollte. Am wunderbarsten aber von allen seinen Künsten war die Macht, willkürlich sein Aussehen zu wechseln und die Gestalt dieses oder jenes Tieres anzunehmen, wie es ihm gerade gefiel. Immer spielte der Hirsch dabei die Hauptrolle.

Eines schönen Tages hatte sich Makanaholo in einen Hirsch verwandelt. Und warum? Es gefiel ihm nicht mehr allein zu sein; er wünschte, eine Gefährtin zu haben. Und wie machte er es da? Als er ein Hirsch geworden war, verstand er es, sein eigenes Fleisch in Fäulnis übergehen zu lassen, und zog dadurch in demselben Augenblick eine Menge Aasgeier auf sich. Als diese sich auf ihre Lieblingsspeise stürzen wollten, kam ein kleiner Vogel angeflogen und rief ihnen zu: »Macht euch davon, so schnell wie möglich, denn man will euch töten!« – Aber sie wollten von ihrem köstlichen Gericht nicht ablassen und glaubten nicht daran. Da schüttelte sich der vermeintliche Hirsch und bewegte sich mehrmals stark, so daß die erschreckten Geier in aller Hast flüchteten. Er tat es, weil er wußte, daß seine Zukünftige nicht unter ihnen war. Aber kaum hatten sie sich entfernt, als plötzlich hoch aus der Luft der schönste der Geier, der König oder vielmehr die Königin von ihnen, herabstieg und sich dicht bei Makanaholo niederließ. Da hatte er sie, und er nahm sie zur Gattin.

Viele Jahre lebten sie in vollkommener Eintracht zusammen. Es gab nur eine Sache, die ihn störte: sie hatte unzählige Läuse. Seine Kunst tat ihre Schuldigkeit. Es gelang ihm, eine Art Seife zu bereiten, und einige Waschungen genügten, um seine Frau von ihrer Plage zu befreien.[53]

Jahre danach sagte die Frau eines Tages zu Makanaholo: »So lange Zeit schon wohne ich hier unten bei dir, und meine gute Mutter dort oben weiß nichts davon. Es ist mein dringender Wunsch, sie wiederzusehen. Erlaube mir, hinaufzusteigen!« – Makanaholo war sehr damit einverstanden und antwortete: »Ich will dich begleiten und mit dir emporsteigen.«

Als sie emporgestiegen waren, traf Makanaholo die Mutter des Königs der Geier, namens Akathu, in der Hängematte. Wie sie sich freute, ihr Kind wiederzusehen in Begleitung eines solchen Mannes!

Von Akathu, die sehr geehrt war bei ihrem Volke, erzählte man sich, daß noch niemals jemand ihr Gesicht habe sehen können. Immer blieb sie in der Hängematte. Jetzt wollte Akathu die Kunst ihres Schwiegersohnes erproben und gab Makanaholo den Befehl, einen kleinen Sitzschemel zu verfertigen, der die Gestalt ihres Kopfes habe.

Wie sollte er es machen, solange Akathu abgesondert in der Hängematte blieb? Makanaholo hatte Macht über die Tiere. Er rief die roten Ameisen. Diese krochen in ungezählten Scharen in die Hängematte und brannten Akathu mit ihren Stichen. Sie sprang heraus, und Makanaholo, der heimlich auf der Lauer lag, hatte Gelegenheit, sie zu sehen. Er sah nun, daß sie nicht nur einen Kopf hatte, sondern nicht weniger als ein Dutzend. Schleunigst machte sich Makanaholo ans Werk und verfertigte eine kleine Bank, welche die Züge Akathus getreu wiedergab. Diese war davon so zufrieden, daß sie laut ausrief: »Ja, ja, du bist ein ganz geschickter Mann!«

Aber noch mehr wollte sie von seiner Fähigkeit sehen. Sie sagte: »Nimm die Angelrute, gehe auf den Fischfang und bringe mir, was du gefangen hast!« – Er tat es und kam rasch zu Akathu zurück. Da er die Kunst besaß, die Fische kleiner zu machen, wickelte er sie in einige Baumblätter und bot sie so seiner Schwiegermutter. Diese warf die Fische weit von sich und sagte verächtlich: »Wie kannst du es[54] wagen, mir so winzige Fische anzubieten?« Aber als sie sie weggeworfen hatte, sah sie alle verwandelt in sehr große Fische. Wieder sprach sie zu ihm: »Ja, ja, du bist ein ganz geschickter Mann!«

Indessen wünschte sie noch mehr von seinem Genie kennen zu lernen. Nachdem alle von den ausgezeichneten Fischen gegessen und wohl geschlafen hatten, und ein neuer Tag anbrach, befahl ihm Akathu: »Gehe hin und hole Wasser, denn ich habe Durst! Nimm diesen Korb, um Wasser hineinzutun!« – Das war wohl ein wenig zu schwer für ihn. Dennoch ging Makanaholo weg. Er versuchte vergeblich, das Wasser in dem Korbe zurückzuhalten. Da kam ihm eine Ameise zu Hilfe. »Was machst du da?« fragte sie. Als er ihr den bestimmten Befehl, der ihm gegeben worden war, auseinandergesetzt hatte, antwortete sie: »Sei ganz ruhig! Ich werde dir helfen.« Und sie tat es, und das Wasser blieb in dem Korb.

Makanaholo ging mit seinem Korb voll Wasser zum Hause Akathus. Er sprach zu ihr: »Da ist der Korb voll Wasser!« – Als sie dies sah, war sie ganz außer sich vor Erstaunen und rief zum drittenmal aus: »Ja, ja, du bist ein sehr geschickter Mann,« und sie fügte hinzu: »geschickter als alle anderen.«

Sie rief alle ihre Kinder zusammen und sprach: »Wohlan, wir wollen einen schönen Garten für ihn machen, weil ein so geschickter Mann für immer bei uns bleiben muß!« In ihrem Herzen war Akathu voll Furcht vor der Kunst des Zauberarztes. Sie fürchtete sowohl für sich selbst, wie für ihre Tochter und ihre anderen Kinder, und sie hatte gesagt: »Sobald er in seinem schönen Garten eingeschlafen ist, müssen wir ihn töten.«

Aber unter den Kindern Akathus, d.h. unter den Geiern, war ein Verräter, der ihm den ganzen Plan der Schwiegermutter erzählte. »Akathu will dich töten; deshalb fliehe so bald als möglich!« – Makanaholo tat dies nicht, denn er vertraute auf seine Zauberkunst. Er sagte nur dem Warner,[55] er habe keine Lust mehr, hier oben zu bleiben, wo seine Wohnung war. Aber vor seiner Abreise wollte er durch seine Energie und seinen Scharfsinn das Attentat vereiteln, das gegen sein Leben geplant war.

Früh auf den folgenden Morgen hatte man den Anschlag festgesetzt. Der Garten war auf allen Seiten verschlossen. Die Mörder waren ganz sicher, daß Makanaholo nicht entwischt sein könnte. Und doch war er nicht mehr darin. Seine Gewohnheit, die Flöte zu spielen, hatte ihn gerettet. Diese Flöte hatte kleine Löcher. In einer der Gartenmauern war eine kleine Öffnung, durch die er die Flöte stecken konnte. Er steckte sie so hindurch, daß drei Löcher außerhalb des Gartens waren. Dann verwandelte er sich in eine Fliege, drang in das Flötenloch ein, das im Garten geblieben war, und schlüpfte durch die Löcher, die draußen waren, ins Freie. Die Mörder, die zu seinem Verderben gekommen waren, hörten Makanaholo in aller Freiheit Flöte blasen. Nach diesem Kunststück kehrte er auf die Erde zurück.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 52-56.
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