[57] 16. Arawanili, der erste Zauberarzt

[57] Der gute und kluge Häuptling Arawanili herrschte über das Volk der Arowaken auf der Insel Kaieri.

Eines Tages stand er am Ufer und schaute traurig hinaus auf das weite Meer. Sein Haupt, das der Federschmuck des Häuptlings zierte, war gesenkt, während er wehen Herzens dem Seufzen des Meeres lauschte. Da erhob sich vor seinen Blicken Orehu, die Wassermutter, aus dem Meere. Sie glitzerte von Wassertropfen, und ihr glänzendes, wallendes Haar umhüllte ihre große Schönheit, die über das Wasser und die Ufer des Meeres zu strahlen schien.

»Sage mir deinen Kummer, Häuptling! Nenne mir den Kummer von Kaieri! Vielleicht kann ich Euch Hilfe bringen aus den Tiefen des Meeres.«

»Ich trauere um die Toten,« sagte der Häuptling, »für die ich nichts tun konnte, um ihnen zu helfen, bevor ihre Seelen entflohen vor den quälenden Yauhahu. Auf der ganzen Insel sehe ich Männer, Frauen und Kinder vom Fieber ergriffen. Von bösen Dämonen geschossen, treffen die grausamen Pfeile der Yauhahu. Wenn uns sterbliche Feinde dieses Übel täten, so würden sie ihre Taten bald bereuen. Aber den Yauhahu kann niemand entgegentreten ohne einen Zauber. Deine helfende Hand kann vielleicht dieses Land erretten, um das ich klage. Gewähre mir einen Zauber, der den Yauhahu widerstehen und sie bezwingen kann!«

»Ich höre, Häuptling, deine Klage, deines Volkes Kummer, und ich will dir helfen. Nimm diesen Zweig, pflanze ihn mit Sorgfalt und ziehe den Ida-Baum groß, dort wo auf dem Hügel deine Hütte hinüberblickt aufs Meer! Wenn er Früchte trägt – groß und rund und schwer werden sie sein – so nimm die erste, die zu Boden fällt, und komme damit zu mir ans Meer!«[58]

Mit diesen Worten sank sie zurück in die Wogen.

Er pflanzte und pflegte den Baum und blickte wartend auf das Meer. Als die Zeit vorüber war, trug er die Kalabasse-Frucht zum Ufer, und dort traf er noch einmal die Wassermutter. Sie zeigte ihm, wie die Frucht durch Löcher zu entleeren sei. Sie brachte einen Handgriff, mit feinen Federn verziert, für Arawanili. Während er an der Frucht arbeitete, tauchte sie unter nach den Edelsteinen des Meeres. Leuchtend weiße Steine brachte sie ihm, füllte sie durch die Löcher in die Frucht und befestigte den Handgriff. Dann übergab sie ihm die erste Zauberrassel und weihte ihn ein in die Geheimnisse der Zauberärzte.

Auch Tabak, den man damals noch nicht kannte, brachte sie ihm. Sie machte ihn so zauberkräftig, daß alle Yauhahu den Arawanili fürchteten.

So dankte er ihrer Liebe seine Macht, die nach ihm keiner erreichte.

Noch heutigen Tages sehen die Männer manchmal in Fluß oder Bucht Orehu, die Wassermutter. Hoch oben aber, so sagen sie, ruht alt geworden Arawanili.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 57-59.
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