[93] 35. Akalapischeima und die Sonne

In alter Zeit war ein sehr hoher Baum. Waloma, die Kröte, kletterte ganz hinauf. Ein Mann, namens Akalapischeima, lauerte jeden Nachmittag am Fuß des Baumes, um Waloma zu fangen. Waloma sagte: »Wenn mich Akalapischeima fängt, werfe ich ihn ins Meer!« Der Mann faßte ihn. Da packte ihn Waloma bei den Händen und stieß ihn mit dem Fuß ins Meer. Sie lud ihn auf den Rücken, tauchte unter und schwamm mit ihm nach einer Insel. Dort ließ sie ihn und schwamm zurück. Sie ließ ihn unter einem Baum, auf dem Aasgeier saßen, die ihn, als er schlief, ganz beschmutzten.

Es war sehr kalt auf der Insel, und der Mann fror sehr. Da begegnete ihm Kaiuanog, der Morgenstern, als er voll Kot der Aasgeier war und sehr stank. Er bat den Stern, ihn zum Himmel zu nehmen. Dieser antwortete: »Ich kann dich nicht mit hinaufnehmen. Du hast mir noch nichts gegeben. Du hast nur immer der Sonne Maniokfladen gegeben.« Der Mann bat den Stern um Feuer, weil er sehr fror. Kaiuanog sagte: »Ich will dir nicht helfen! Die Sonne[93] kann dir helfen. Sie empfängt mehr Maniokfladen.« Kaiuanog ging weg.


35. Akalapischeima und die Sonne

Da kam Kapei, der Mond. Akalapischeima bat Kapei, ihn nach seiner Heimat zu bringen. Der Mond wollte ihn nicht hinbringen, weil er der Sonne so viel Maniokfladen gegeben habe und ihm gar nichts. Er bat auch den Mond um Feuer, aber auch dies gab ihm der Mond nicht. Der Mann fror sehr, und die Aasgeier beschmutzten ihn immer mehr, denn die Insel war sehr klein.

Da kam Wei, die Sonne. Die Sonne nahm ihn in ihr Boot. Sie ließ ihn durch ihre Töchter waschen und ihm die Haare schneiden. Sie machte ihn wieder schön. Wei wollte ihn zum Schwiegersohn haben. Akalapischeima wußte nicht, daß es die Sonne war, und bat Wei, die Sonne zu rufen, um sich zu wärmen, denn er fror sehr, als er gewaschen und in das Vorderteil des Bootes gesetzt war.

Da setzte sich Wei einen Kopfputz aus Papageifedern auf. Akalapischeima hatte mit dem Rücken nach dem Boot zu gesessen. Jetzt sagte Wei zu ihm: »Drehe dich um!« Als er sich umwandte, setzte Wei über den Federkopfputz einen Hut aus Silber auf und legte Ohrschmuck aus glänzenden Käferflügeldecken an. Da wurde es warm. Wei erwärmte den Mann. Es wurde sehr warm, und er litt unter der Hitze. Wei führte ihn immer weiter mit sich in die Höhe. Als Akalapischeima sehr unter der Hitze litt, gab ihm Wei Kleider. Da fühlte er die Hitze nicht mehr.[94]

Wei wollte ihn zum Schwiegersohn haben. Er sagte zu ihm: »Du sollst eine meiner Töchter heiraten, aber lasse dich nicht mit einer anderen Frau ein!« Wei machte Halt an einem Haus und ging mit seinen Töchtern ans Land und in das Haus hinein. Er befahl Akalapischeima, das Boot nicht zu verlassen und sich nicht in eine andere Frau zu verlieben. Wei ging ins Haus. Akalapischeima ging trotzdem ans Land. Da begegneten ihm einige junge Mädchen, die Töchter des Aasgeiers. Der Mann fand sie sehr hübsch und verliebte sich in sie. Wei und seine Töchter wußten nichts davon, denn sie waren ins Haus gegangen. Als sie zum Boot zurückkamen, trafen sie ihn schäkernd inmitten der Töchter des Aasgeiers.

Die Töchter der Sonne schalten ihn aus und sagten: »Hat dir unser Vater nicht gesagt, du solltest im Boot bleiben und nicht an Land gehen? Hat dir unser Vater nicht geholfen, von der Insel wegzukommen? Wenn er dir nicht geholfen hätte, wärest du nicht in diesem guten Zustande, und jetzt verliebst du dich schon in die Töchter des Aasgeiers!« Da zürnte ihm Wei und sagte zu ihm: »Wenn du meinem Rate gefolgt wärest und eine meiner Töchter geheiratet hättest, so wärest du immer jung und schön geblieben wie ich. Jetzt bleibst du nur kurze Zeit jung und schön. Dann wirst du alt und häßlich!« Dann gingen sie schlafen, jeder in einem besonderen Raum, Wei und seine Töchter allein, und Akalapischeima allein.

Am anderen Tag frühmorgens fuhr Wei mit seinen Töchtern weg und ließ Akalapischeima schlafend zurück. Als er erwachte, fand er sich inmitten der Aasgeier, alt und häßlich, wie Wei gesagt hatte. Die Töchter der Sonne zerstreuten sich und beleuchteten nun den Weg der Toten. Akalapischeima heiratete eine Tochter des Aasgeiers und gewöhnte sich an das Leben. Er war unser Vorfahr, der Vater aller Indianer.

Deshalb leben wir heute noch in diesem Zustande. Wir bleiben nur kurze Zeit jung und hübsch und werden dann alt und häßlich.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 93-95.
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