[105] 37. Wie die Plejaden an den Himmel kamen

Es war einmal ein Mann namens Schilischoaibu; der hatte eine Frau, Wayulale, die nichts von ihm wissen wollte. Er hatte einen schönen Bruder, den sie lieb hatte.

Bei einer Gelegenheit pflückte Schilischoaibu Abacate-Früchte und stieg auf den Baum. Sie hatte eine Axt mitgenommen und hielt sie versteckt. Der Mann stieg auf den Baum, um Früchte zu holen. Er warf die Früchte herab, und sie las sie zusammen und wartete nur auf den Augenblick, wenn er herunterkäme. Er stieg herab. Als er auf der Hälfte des Stammes war, nahm sie die Axt und schlug ihm das rechte Bein ab, wie man noch heute sieht. Sie kehrte in das Haus zurück.

Der Bruder war in der Pflanzung und arbeitete. Da saß ein kleiner Vogel auf einem Baum und sang: »schirischowaid!« Der Bruder fragte: »Was sagt der Vogel?« Dieser kam weiter herunter, schlug mit den Flügeln und sang: »Deines Bruders Bein schlug ab seine Frau mit der Axt!« Der Bruder ließ seine Hacke liegen und lief zornig nach Hause.

Wayulale lag in der Hängematte. Sie stand auf, als er kam und gab ihm Kaschiri. Er fragte: »Wo ist mein Bruder?« Sie sagte: »Er ist dort geblieben und pflückt Früchte!« Er wurde traurig und legte sich in die Hängematte. Sie kam und legte sich über ihn. Er wollte herausspringen, aber sie wickelte ihn in die Hängematte ein. Es wurde Nacht.[105]

Der Mann lag im Wald und schrie vor Schmerz. – Sie sagte: »Laß deinen Bruder! Er ist vielleicht fischen gegangen. Wenn er kommt, gehe ich heraus aus der Hängematte.« Der Bruder aber wußte alles, da es ihm das Vöglein erzählt hatte.

In der Nacht bat er sie um Speise, damit er Zeit hätte, vor das Haus zu gehen. Sie verließ die Hängematte. Da kam ihr Mann an, kriechend, und schrie: »O mein Bruder, mein Bein ist mit der Axt abgeschlagen! Töte diese Frau!« Der Bruder fragte die Frau: »Was hast du mit deinem Manne gemacht?« Sie antwortete: »Ich habe nichts mit ihm gemacht! Ich ließ ihn zurück, fischend und Früchte pflückend.« So betrog sie immer den Bruder. Er antwortete: »Du hast etwas mit meinem Bruder gemacht! Der kleine Vogel hat mir die Geschichte erzählt!« Sie sagte: »Lüge! Ich habe nichts mit ihm gemacht! Ich habe ihm nichts Böses getan!« Als der Mann draußen vor Schmerz schrie, ging sie wieder zu dem Bruder in die Hängematte und hielt ihn fest umschlungen, so daß er nicht weg konnte. Der Bruder sagte: »Du hast etwas mit dem Manne gemacht! Hörst du nicht, wie er schreit?« Die Frau aber ließ den Bruder nicht aus der Hängematte heraus, während der andere vor dem Haus lag und schrie: »Mein Bruder, mein Bruder, hilf mir, mein Bruder!« Er konnte nicht herauskommen.

Der verwundete Bruder hatte eine Rohrflöte. Er blieb liegen und schrie bis Mitternacht. Da antwortete der Bruder: »Ich kann dir nicht helfen! Deine Frau läßt mich nicht aus der Hängematte heraus!« Sie hatte die Tür geschlossen und mit Stricken zugebunden. Da sagte der Bruder: »Ich werde dich eines Tages rächen! Leide da draußen! Deine Frau soll auch eines Tages leiden!« Er schlug das Weib, aber sie ließ ihn nicht los.

Der Verwundete richtete sich draußen am Pfosten der Tür hoch, kletterte auf das Dach und blies auf seiner Rohrflöte: »ting-ting-ting«. Der Bruder im Haus weinte, denn er hatte Mitleid mit ihm. Dieser nahm die Flöte vom Mund und sprach zu dem Bruder: »Bleibe im Haus! Ziehe gute Söhne[106] und gute Töchter auf! Gute Gesundheit und Glück! Ich gehe weg! Schaffe eine gute Familie, aber nimm dich vor der Frau in acht und mißtraue ihr immer!« Der Bruder fragte: »Wohin gehst du?« Er antwortete: »Ich gehe zum Himmel! Ich will sein Tamökang, Körper mit einem Bein, das zurückbleibt!« Da antwortete der Bruder: »Ich bleibe hier für einige Zeit, solange ich keinen Ärger habe, und mir kein Unglück zustößt. Ich bin traurig, daß du so leiden mußt! Deine Frau wird eines Tages büßen, was sie dir getan hat! Ich habe großes Mitleid mit dir!« Da sagte der andere: »Wenn ich zum Himmel komme, gibt es viel Gewitter und Regen. Dann kommen die Fischzüge, und du wirst viele Fische essen!« – Bis auf den heutigen Tag zeigt Tamökang die Regenzeit an.

Tamökang ging zum Himmel, immer flötend: »ting-ting-ting«. Da ließ die Frau den Bruder los, machte die Tür auf und spähte ihm nach. Der Bruder setzte sich auf die Erde und weinte. Auch Tamökang weinte und sagte: »Ich will sehen, wo ich bleiben kann, wo ich einen Platz finde am Himmel!«

Der jüngere Bruder blieb mit der Frau zusammen, machte Haus und Pflanzung und hatte mit ihr fünf Kinder, zwei Töchter und drei Söhne. Er dachte immer traurig an die Reise seines Bruders.

Eines Tages ging er jagen und fand ein Bienennest. Er sann immer auf ein Mittel, seine Frau zu töten. Als er nach Hause zurückkehrte, sagte er zu seiner Frau: »Dort sind Bienen. Wir wollen den Honig holen!« Die Frau antwortete: »Wir wollen ihn holen!« Er dachte immer daran, wie sein Bruder gelitten hatte, und sann auf ein Mittel, die Frau zu töten. Sie nahm dieselbe Axt mit, mit der sie seinem Bruder das Bein abgeschlagen hatte. Das Bienennest war nicht hoch. Er machte mit der Axt ein großes, rundes Loch in den Stamm und probierte so lange, bis er den Kopf hineinstecken konnte. Dann sog er den Honig heraus. Dabei sah er immer mißtrauisch nach der Frau zurück, da er sich[107] immer der Worte seines Bruders erinnerte. Aber sie saß da und wollte ihn nicht töten, denn sie war sehr zufrieden mit ihm, nachdem sie den Bruder getötet hatte. Dann sagte er: »Mein Leib ist voll. Jetzt kommst du. Versuche es! Sauge den Honig!« Sie nahm die Kalabasse, um den Honig mit der Hand hineinzuschöpfen. Da sagte er: »Stecke den Kopf hinein! Es geht zu viel Honig verloren!« Der Mann hatte den Honig mit beiden Händen tief hinuntergedrückt, damit sie recht tief eindringen konnte. Da ließ sie die Kalabasse und drang mit Kopf und Oberkörper in das Loch ein. Er faßte sie an den Beinen und stieß sie ganz hinein. Er nahm das Stück Holz, das er aus dem Baum gehauen hatte. Die Frau fragte: »Wozu ist das?« Er antwortete: »Das ist, um höher zu steigen.« Da nahm er das Stück Holz und stieß es in das Loch hinein. Die Frau rief: »Was machst du da? Du willst mich wohl töten!« Er antwortete: »Was du mit meinem Bruder gemacht hast, das sollst du mir jetzt büßen! Du wirst jetzt das leiden, was mein Bruder gelitten hat! Es tut mir sehr leid um dich, Weib, aber ich kann es nicht mehr ertragen, was du meinem Bruder getan hast!« Er verschloß das Loch.

Dann horchte der Mann am Baum. Er wollte hören, was aus ihr würde. Sie schrie zuerst laut: »Meine armen Kinder! Meine armen Kinder! Wenn ich auch in ein Gürteltier verwandelt werde, so werde ich mich doch immer meiner Kinder erinnern!« Dann schrie sie immer leiser, machte: »kenong-kenong-kenong«, wie das Gürteltier macht, und blieb in ein Gürteltier verwandelt.

Der Mann kehrte nach Hause zurück. Die Kinder fragten ihn: »Wo ist unsere Mutter?« Er aber erzählte ihnen nicht, was er mit ihr gemacht hatte, sondern täuschte die Kinder und sagte: »Ich habe euere Mutter im Walde gelassen und weiß nicht, wo sie ist. Vielleicht hat sie der Jaguar gefressen!«

Einige Tage später ging er mit seinen Kindern in den Wald und fand ein Bienennest. Er führte die Kinder tiefer in den[108] Wald hinein und ließ sie dort. Er kehrte zurück und zündete das Haus an. Er wollte sie nicht sehen lassen, wie er das Haus anzündete. Dann kehrte er zu seinen Kindern zurück, und sie gingen, den Honig zu holen. Er schlug den Baum um, nahm Honig und aß ihn, bis sein Bauch voll war. Dann sagte er zu den Kindern: »Was sollen wir nun werden?« Eine Tochter sagte: »Ich weiß es nicht.« Er sagte: »Kutia, das kann nicht sein! Tapir, das kann nicht sein! Hirsch, das kann nicht sein! Mutum, Inambu, Kujubim, das kann nicht sein! Wenn wir uns in diese Tiere verwandeln, werden sie uns töten und aufessen! Wir wollen sein Araiuag (Waldhunde), denn diese töten und essen sie nicht!«

Er sagte: »a–«, und alle Kinder sagten: »a–a–a–«, und sie verschwanden einer hinter dem anderen in den Wald.

Deshalb liebt Araiuag den Honig bis auf den heutigen Tag und hat keine Angst vor den Bienen.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 105-109.
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