[130] 40. Das Augenspiel

[130] Die Krabbe schickte ihre Augen nach dem Meeressee. Sie sagte: »Geht an das Ufer des Meeressees, meine Augen, fort-fort-fort-fort!« Die Augen gingen weg. Sie blieb ohne Augen. Dann sagte sie: »Ah, sie sind weg, meine Augen! Jetzt werde ich meine Augen rufen!« Dann sagte sie: »Kommt vom Ufer des Meeressees, meine Augen, kommt-kommt-kommt-kommt!« Da kamen ihre Augen zurück.

Während ihre Augen zurückkamen, lauerte ein Jaguar. Da sagte die Krabbe: »Ah, da kommen meine Augen!« Dann sagte sie: »Jetzt schicke ich meine Augen wieder weg!« Als sie dies sagte, sprang der Jaguar hinter sie und erschreckte sie: »e–!« Er fragte sie: »Was sagst du da, Schwager?« Die Krabbe antwortete: »Ich schicke meine Augen nach dem Meeressee.« Der Jaguar sagte: »Wie ist das, Schwager? Ich will es sehen!« Da sagte die Krabbe: »Aimala-podole, der Vater des Trahira-Fisches, kommt schon meinen Augen nahe, um sie zu verschlucken!« Da sagte der Jaguar: »Nein, ich will es sehen! Schicke deine Augen!« Die Krabbe sagte: »Gut, ich werde sie schicken!« Dann sagte er: »Geht an das Ufer des Meeressees, meine Augen, fort-fort-fort-fort!« Da gingen ihre Augen weg, und es blieben nur die Löcher. Dann sagte die Krabbe: »Hast du es gesehen, Schwager?« Da erwiderte der Jaguar: »Rufe deine Augen, Schwager!« Die Krabbe sagte: »Kommt vom Ufer des Meeressees, meine Augen, kommt-kommt-kommt-kommt!« Da kamen ihre Augen. Da sagte der Jaguar: »Schicke meine Augen, Schwager!« Die Krabbe antwortete: »Nein! Trahiravater ist schon nahe!« Der Jaguar sagte: »Doch! Ich will, daß du sie schickst!« Da antwortete die Krabbe: »Gut! Bleibe ruhig!« Dann sagte sie: »Geht an das Ufer des Meeressees, Augen meines Schwagers, fort-fort-fort-fort!« Da gingen die Augen[131] des Jaguars weg, und er wurde blind. Da sagte der Jaguar: »Rufe meine Augen, Schwager!« Er bekam gleich Angst. Die Krabbe sagte: »Kommt vom Ufer des Meeressees, Augen meines Schwagers, kommt-kommt-kommt-kommt!« Da kamen die Augen des Jaguars zurück. Da sagte der Jaguar: »Das hast du gut gemacht, Schwager! Schicke sie noch einmal weg!« Die Krabbe antwortete: »Nein, Trahiravater ist schon ganz nahe!« Der Jaguar sagte: »Doch! Schicke meine Augen noch einmal, nur noch einmal!« Da sagte die Krabbe: »Geht an das Ufer des Meeressees, Augen meines Schwagers, fort-fort-fort-fort!« Da gingen die Augen des Jaguars weg. Trahiravater faßte die Augen und verschluckte sie. Der Jaguar blieb blind und sagte: »Rufe meine Augen, Schwager!« Die Krabbe rief die Augen des Jaguars: »Kommt vom Ufer des Meeressees, Augen meines Schwagers, kommt-kommt-kommt-kommt!« Aber die Augen kamen nicht. Trahiravater hatte sie verschluckt. Da sagte die Krabbe zum Jaguar: »Hast du es gesehen, Schwager? Trahiravater hat sie schon verschluckt!« Da wurde der Jaguar ärgerlich, weil seine Augen nicht kamen. Er sagte zur Krabbe: »Jetzt fresse ich dich!« Als sich der Jaguar erhob, um die Krabbe zu fassen, sprang diese ins Wasser und verbarg sich unter dem Fuße eines Bacaba-Blattes, das dort lag. Der Jaguar suchte sie. Er faßte Holz, indem er glaubte, es wäre die Krabbe. Der Fuß des Bacabablattes blieb ihr auf dem Rücken haften bis auf den heutigen Tag. Die Krabbe ging weg und verwandelte sich in die Krabbe, wie sie jetzt ist.

Der Jaguar ging ohne Ziel durch den Wald, ohne Augen, ohne zu wissen, wo er ging. Er setzte sich mitten im Walde nieder. Da begegnete ihm der Königsgeier und fragte ihn: »Was machst du da, Schwager?« Der Jaguar antwortete: »Ich mache nichts! Die Krabbe hat meine Augen weggeschickt nach dem Meeressee. Trahiravater hat sie verschluckt!« Er bat den Königsgeier, ihm andere Augen einzusetzen. Dieser sagte: »Gut! Bleibe hier! Ich gehe, Milch des Jatahy-Baumes holen!« Der Königsgeier ging weg. Er blieb lange[132] aus. Dann kam er. Er befahl dem Jaguar, sich hinzulegen. Dann zündete er die Milch an und sagte: »Sage nicht: ›ai‹! Bleibe ruhig! Halte alle Hitze aus!« Er schüttete die Milch in das rechte Augenloch. Der Jaguar hielt alle Hitze aus und sagte nicht: »ai«. Der Königsgeier füllte das rechte Augenloch aus. Dann füllte er das linke Augenloch aus. Dann suchte er einen kleinen Ast und zog Milch von dem Baume Kaikusäschimpipö, um die Augen des Jaguars zu waschen. Dann wusch er die Augen mit dieser Milch. Da bekam der Jaguar schöne, klare Augen. Dann sagte der Königsgeier: »Jetzt töte mir einen Tapir zur Mahlzeit als Tausch für die Augen!« Der Jaguar tötete einen Tapir als Tausch für die Augen. Er sagte zum Königsgeier, er habe einen Tapir getötet. Da sagte der Königsgeier: »Immer gib mir jetzt zu essen! Wenn du einen Hirsch oder Tapir tötest, gib uns davon zu essen!«

So blieb es bis auf den heutigen Tag. Der Jaguar tötet Wild, damit der Königsgeier zu essen hat.

Der Jaguar ging weg mit klaren Augen.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 130-133.
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