[161] 57. Schildkröte und Tapir

[161] Die Schildkröte ist ein guter Mann, nicht bösartig.

Eines Tages befand sie sich unter einer Taperewa, um ihre Mahlzeit einzunehmen. Da kam ein Tapir und sagte zu ihr: »Geh weg da, Schildkröte, mache dich fort von hier!«

Die Schildkröte antwortete: »Nein, ich werde nicht weggehen, denn das ist mein Baum!«

»Geh weg, Schildkröte, sonst trete ich dich unter die Füße!«

»Immer zu! Ich will sehen, ob du allein ein Mann bist.«

Der verfluchte Tapir trat die Schildkröte unter seine Füße und stampfte die Unglückliche in den Kot. Dann ging er weg. Die Schildkröte sagte bei sich: »Warte nur, Verfluchter! Wenn die Regenzeit da ist, werde ich wieder herauskommen. Dann will ich dir folgen, bis ich dich treffe, und du sollst mir dafür büßen, was du mir jetzt angetan hast!«

Als die Regenzeit kam, wurde die Schildkröte frei und machte sich auf die Suche nach den Spuren des Tapirs. Sie fand eine Spur und fragte sie: »Wie lange ist es her, daß dein Herr hier vorübergekommen ist?«

Die Spur antwortete: »Es ist schon eine geraume Zeit her,« und die Schildkröte ging weiter.

Einen Monat später begegnete sie einer anderen Spur und fragte sie: »Wie lange ist es her, daß dein Herr dich getreten hat?«

Die Spur antwortete: »Es ist schon recht lange her.«

Die Schildkröte ging weiter. Nach Verlauf von einem Monat begegnete sie einer anderen Spur und fragte sie: »Ist dein Herr noch sehr weit?«

Die Spur antwortete: »In zwei Tagen wirst du ihm begegnen.«

»Pah!« sagte die Schildkröte. »Ich bin überdrüssig, hinter ihm herzulaufen. Vielleicht ist er sehr weit gegangen.«[162]

»Warum suchst du ihn denn?« fragte die Spur.

»Weil ich mit ihm zu sprechen habe,« antwortete die Schildkröte.

»Dann gehe auf diesen Flußarm zu!« sagte die Spur.

»Dort wirst du meinen großen Vater finden!«

»Es ist gut, ich gehe dorthin,« sagte die Schildkröte.

Als sie an den Flußarm kam, fragte sie ihn: »Fluß, wo ist dein Herr?« Der Flußarm antwortete: »Ich weiß es nicht.« Darauf sagte die Schildkröte: »Warum sprichst du so zu mir?«

»Ich spreche so zu dir,« sagte der Fluß, »weil ich weiß, was mein Vater dir getan hat.«

»Es ist gut,« erwiderte die Schildkröte, »ich werde ihn auch so bald finden. Lebe wohl, Fluß! Du wirst mich nur mit dem Leichnam deines Vaters wiedersehen!«

»Störe ihn nicht,« sagte der Fluß, »laß ihn schlafen!«

»Er schläft also!« versetzte die Schildkröte. »Oh! Jetzt bin ich sehr zufrieden. Auf Wiedersehen, Fluß!«

Der Flußarm antwortete: »Aufgepaßt, Schildkröte! Du wirst dich ein zweites Mal in die Erde stampfen lassen!«

»Ich bin doch kein Stein, den man in den Boden tritt!« sagte die Schildkröte. »Ich will jetzt den sehen, der gesagt hat, er sei stärker als ich. Wohlan, Fluß, ich gehe!«

Die Schildkröte ging den Fluß entlang auf der Suche nach dem Tapir und fand ihn: »Ah, da bist du ja! Ich habe dich also gefunden,« sagte die Schildkröte. »Jetzt wollen wir sehen, ob ich ein Mann bin!« Bevor sie sich auf ihn stürzte, sagte sie: »Das Feuer, so sagt man, brennt überall!« – Damit biß sie sich mit aller Gewalt in das Skrotum ihres Feindes fest. Der Tapir erwachte, und da er sich verloren fühlte, schrie er: »Gnade, Schildkröte, Gnade! Laß ab von mir!« »Ich werde nicht von dir ablassen,« sagte diese, »denn ich will deine Kraft sehen!«[163]


57. Schildkröte und Tapir

»Dann gehe ich weg,« sagte der Tapir und lief zum Flußarm, wo er nach zwei Tagen starb.

Die Schildkröte schrie: »Nun wohl! Habe ich dich getötet, ja oder nein? Jetzt werde ich meine Verwandten rufen, damit wir dich essen!«

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 161-164.
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