[202] 75. Die Pirarukus

[202] In einer Lagune waren reiche Fischgründe, wo zur Wasserzeit immer viele Fische gespeert wurden. Oft aber ereignete es sich dabei, daß die Fische die Kanus nach sich zogen und sie an einem großen Baumstamm in der Mitte des Sees zum Umschlagen brachten. Eines Tages ging Aschurä mit einigen Kameraden dort fischen. Da tauchte vor ihnen plötzlich die Federmaske eines Piraruku auf. Die Leute wichen anfangs erschreckt zurück, bald aber ermannten sie sich wieder, riefen noch andere Genossen herbei und begannen, die Pirarukus zu treiben und mit Netzen zu umstellen. Nachdem bereits eine Anzahl erlegt war, sagte ein Greis, nun sei es genug; die übrigen aber töteten mehr. Als nun plötzlich ein Surubim über das Netz sprang, wiederholte der Alte seine Aufforderung, vom weiteren Fang abzulassen; doch vergebens. Endlich sah er auch einen Piaba springen. »Das bedeutet nichts Gutes,« rief der Alte, »der Piaba springt sonst nicht; dieser hier ist gesprungen; hört auf!« – Statt dessen versuchten die übrigen, die gefangenen Fische mit Keulenschlägen zu töten. Da verschwand plötzlich der See und alles, was darin war. Nur ein Knabe, der am Ufer auf einem Baume saß, wurde gerettet. Er weinte, und seine Tränen fielen ins Wasser. Ein kleiner Fisch fing sie auf.

Jetzt erschienen die Pirarukus in Menschengestalt wieder. Sie fragten den Knaben einer nach dem anderen: »Sehe ich aus wie dein Vater; sehe ich aus wie dein Onkel, dein Bruder usw.?« bis dieser endlich alle seine Verwandten bestimmt hatte. Nun gingen sie zusammen ins Dorf zu den Weibern, deren Männer sie jetzt vorstellten. Einer der Pirarukus legte seinen Kopf der Frau auf den Schoß, um ihn absuchen zu lassen, befahl ihr aber, ja nicht in seinem Genick nachzusehen, und schlief bald darauf ein. Die Frau aber[203] vermochte ihre Neugierde nicht zu bezwingen, untersuchte das Genick des Mannes und fand dort eine Reihe kurzer Stacheln. Da erschrak sie und erweckte durch einen lauten Schrei den Mann. »Was hast du?« fragte dieser. – »Ach, es ist nichts; es ist nur eine Laus heruntergefallen.« – Der Mann nahm die Entschuldigung an und ging in die Festhütte zum Tanz.

Die Frau beschloß, mit ihrem Kinde zu fliehen. Vor ihrem Weggange sprach sie zu ihrem Papagei: »Wenn der Vater kommt und nach mir fragt, so sage, ich sei beim Wasserholen; kommt er wieder, so sage, ich sei beim Holz- oder Früchtesuchen!« – So geschah es. Der Mann wurde von dem Papagei so lange hingehalten, bis die Frau weit entfernt war. Endlich aber merkte er den Betrug, riß wütend dem Vogel die Federn aus, der höhnisch ausrief: »Jetzt weiß ich, daß du kein Mensch, sondern ein Piraruku bist!« und eilte seinem Weibe nach. Diese suchte Schutz bei einem Reiher, in dessen Kropf sie sich verbarg. Der Mann kam nach und fragte den Vogel, warum er so dick sei. »Ich habe so viele kleine Fische gegessen,« erwiderte dieser. – »So laß deinen Kot sehen!« – Der Reiher tat, wie ihm geheißen war, wobei das Weib beinahe zum Vorschein gekommen wäre. Der Mann eilte weiter. Das Weib mit ihrem Kinde setzte später ihre Flucht fort, aber weit und breit war kein Wasser. Fast verschmachtend, erreichte sie endlich einen Sumpf, in dem ein Zitteraal lag. Sie bat ihn um Wasser; er aber gewährte es nur unter der Bedingung, daß sie ihm zu Willen war.

Später traf das Weib einen zweiten Aal, der die gleiche Forderung stellte, um Wasser zu schaffen, aber von der Frau betrogen wurde; endlich einen dritten, der aber kein Wasser mehr lieferte. Das Kind verwandelte sich vor Durst in einen Vogel und flog fort.

Die Frau begegnete weiter einem Jaguar. Dieser fragte: »Womit hast du dein Kind so schön bemalt?« – »Das habe ich mit gekochtem Wachs gemacht.« – Der Jaguar[204] bat darauf das Weib, ihn ebenfalls so schön fleckig zu machen, und legte sich ruhig vor sie hin. Die Frau kochte eine große Menge Wachs und begoß den Jaguar damit, so daß er starb. Die Schwester nahm dem Jaguar das Fett heraus und stopfte es in einen hohlen Baum, worauf beide Weiber ihre Flucht fortsetzten. Nach einer Weile sagte die Schwester: »Laß mich zurückgehen; ich vergaß meine Pfeife!« – »Geh,« sagte das Weib, »aber iß nichts vom Fett des Jaguars, sonst wirst du selbst einer!« – Die Schwester jedoch folgte nicht, verzehrte vielmehr, vom Hunger getrieben, davon eine große Menge. Sie kehrte später ein zweites Mal um unter dem Vorwande, ihre Schürze vergessen zu haben, aß nochmals vom Fett und ward nun selbst in einen Jaguar verwandelt.

So folgte sie in Tiergestalt ihrer Schwester nach. Diese suchte sie nun los zu werden, überredete sie, die Augen zu schließen, und stieg währenddessen auf einen Baum, von dem aus sie dem Jaguar höhnisch zurief: »Das ist die Strafe für deinen Vorwitz; jetzt sieh, wie du weiterkommst!« – Endlich kam sie an einen Fluß, an dem ein Alligator saß. Diesen bat sie, sie überzusetzen. Der Alligator stellte dasselbe Verlangen, wie früher der Zitteraal, sah sich aber ebenfalls betrogen. Voll Ärger brachte er den Mann auf ihre Fährte. Die Frau hatte mittlerweile ein verlassenes Haus erreicht und sich Feuer angezündet, als sie plötzlich eine Dampfwolke aufsteigen sah. Es war ihr Mann, der Piraruku, der, seine Pfeife rauchend, des Weges kam. Sie warf ihm Asche ins Gesicht, so daß der Mann sie nicht erblickte und seine Pfeife ausging. Während er diese wieder anzündete, gewann sie einen Vorsprung und warf, als er ihr zum zweiten Male nahekam, mit Kohlen nach ihm. Das drittemal blieb dies jedoch erfolglos; da warf sie mit Salz. Ein großer Fluß bildete sich zwischen beiden, so daß die Frau gerettet war. Voll Zorn und Scham darüber, daß es ihm nicht gelang, das Weib in seine Gewalt zu bekommen, kehrte der Piraruku zu den Seinigen zurück, die, als sie sich erkannt[205] sahen, ihren See wieder aufsuchten und sich seitdem nicht wieder haben sehen lassen.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 202-206.
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