[229] 84. Die Sintflut

Die Kaschinaua lebten zufrieden, bewohnten viele schöne Dörfer und hatten Überfluß an Nahrungsmitteln. Sie dachten an nichts Schlimmes. Sie waren sehr glücklich. Sie wohnten am Ufer des reißenden Stromes. Da begann es zu regnen, unaufhörlich. Es regnete am hellen Tag; es regnete in tiefer Nacht. Unaufhörlich regnete es in Strömen. Kein Mensch konnte weit vor das Haus gehen. Alle lagen in ihren Hütten. Der Blitzstrahl schmetterte herab. Der Donner krachte. Alle fürchteten sich und blieben liegen. Da barst der Himmel und kam herab und tötete sie alle. Er tötete ebenso alle Jagdtiere; er tötete alle Fische. Er tötete sie alle. Er machte ein Ende mit ihnen. Nichts verschonte er. Er tötete sie. Er machte ein Ende mit ihnen. Die Erde wechselte mit dem Himmel den Platz. Der Himmel fiel auf die Kaschinaua und tötete sie. Der Himmel wendete sich wieder um, und die Seelen, die im Himmel wohnten, nahmen sie mit sich. Im Himmel weilen sie jetzt und sind glücklich.

Auf der Erde blieb nichts Lebendes zurück. Im Himmel war[229] eine schwangere Frau. Der Blitzstrahl schmetterte herab und tötete sie. Vom Himmel warf man die tote Frau auf die Erde hinab. Als sie auf die Erde fiel, kam der Krebs aus seinem Loch heraus. Er sah die tote Frau da liegen und öffnete ihr mit dem Messer den Leib. Ihre Kinder blieben am Leben. Es waren Zwillinge, ein Knabe und ein Mädchen. Der Krebs freute sich über die beiden Kleinen. Er nahm sie in seine Arme und brachte sie seiner Frau. Auch diese freute sich über sie und legte sie in ihre Hängematte. Als beide weinten, bereitete sie ihnen Stärkebrühe und gab ihnen davon zu trinken. Sie sättigten sich daran und beruhigten sich.

Die Leute des Krebses sagten: »Gib uns die Kleinen!« aber er wollte nichts davon wissen, sondern zog sie allein auf. Sie wuchsen heran, und als beide erwachsen waren, verheiratete sie der Krebs miteinander.

Dann kehrte er mit seinem Weib in den Fluß, in seine Wohnung, zurück.

Der Bruder zog mit seinem Weibe weit weg auf einen schönen Hügel. Dort legten sie eine Pflanzung an, in der sie wohnen blieben. Anfangs hatten sie keine Pflanzennahrung. Da holten sie aus einer Wüstung Sprößlinge der Makaschera und der Banane, sie holten Inhame und Bataten, sie holten Papaya, Zuckerrohr, Bohnen und Erdnüsse. Sie pflanzten sie in ihr Feld, und die Pflanzen wuchsen heran und trugen Frucht. Die Früchte reiften, und sie hatten gute Nahrung.

Dann schwängerte der Bruder seine Schwester, und sie gebar ihm einen Sohn. Darauf gebar sie ihm eine Tochter. Als die Kinder herangewachsen waren, verheirateten sie sie miteinander. Diese bekamen wieder Kinder, und so vermehrten sie sich. Von dem, der sie aufzog, hatte er seinen Namen »Schaka« (Krebs), und sein Weib hieß »Maschi«. Der Name seines Sohnes war »Pöka«, der Name seiner Tochter »Iriki«. Von seinen anderen Kindern hieß der Sohn »Mana« und die Tochter »Matsiani«. So waren die Namen derer, die sie aufzogen.[230]

Nun zeugten sich die Kaschinaua wieder und wieder, und die Jagdtiere zeugten sich und ebenso die Fische.

Wo sie wohnten, gab es keine Pium und keine Karapana; es gab keine Dunkelheit; man schlief am hellen Tag. Pium, Karapana, Dunkelheit, Wespe waren nur dort, weit weg, mitten in einem anderen reißenden Fluß. Mana zog hin und holte die Pium und die Karapana; er holte die Wespe und die Nacht. Die große Schlange gab ihm den Schmetterling, die Spinne die Nacht; die Eidechse gab ihm die Wespe und die Karapana. Er brachte sie herbei. Er holte sie mitten aus dem Fluß. Jetzt schliefen sie im Dunkeln und waren glücklich. Mana holte die Nacht in einer kleinen Flasche; daher schlafen wir im Dunkeln.

So machte es Mana, als er die Nacht holte. Wenn er die Nacht nicht geholt hätte, würden wir am hellen Tage schlafen. Jedoch er zog die Nacht hervor, und wir schlafen, wenn es dunkel geworden ist. Von da an lebten sie sehr glücklich und hatten keine Schmerzen zu erdulden.

Als Manas Vater sehr alt geworden war, fragte ihn sein Sohn: »Wann wirst du sterben, Vater?« »Ich will sterben,« antwortete er, »aber du mußt mich töten, denn so kann ich nicht sterben. Bring mir irgendeine giftige Sache zum Essen, damit ich sterbe!« Da brachte ihm sein Sohn die Kröte. Er gab sie ihm, und der Vater wusch sie nicht und briet und aß sie. Keine andere Speise nahm er zu sich und erbrach sich fortwährend. Einen ganzen Tag aß er nur die Kröte. Als die Sonne unterging, rief sein Sohn: »Vater, wie ist es nun?« »Du hast mich getötet,« antwortete dieser, »ich bin am Sterben! Ich sterbe; ich werde emporsteigen in den Himmel. Auf dem ganzen Weg werde ich rufen. Wenn du es hörst, antworte mir! Wenn ich rufe: ›Wechsele die Haut! Wechsele die Haut!‹ und ihr hört es, so werdet ihr, wenn ihr alt geworden seid, eure alten Häute wechseln und hier mit neuen Häuten weiter leben. Wenn ihr aber schlecht hört, so werdet ihr sterben.« So unterrichtete er seinen Sohn und dann starb er.[231]

Er starb, und am anderen Tag, als die Sonne hoch stand, donnerte es ununterbrochen. Nun stieg seine Seele empor und rief. Sein Sohn horchte. »Jetzt steigt mein Vater empor. Er schrie vom Himmel her. Ich antworte.« Der Vater näherte sich seinem Platz und rief: »Wechsele die Haut! Wechsele die Haut!« Der Sohn horchte und horchte. Sein Bruder fragte: »Was ruft er da?« Mana antwortete: »Der Vater rief: ›Höre auf! Höre auf!‹ Wir werden aufhören und wir werden sterben.«

Die Kaschinaua hörten schlecht, deshalb starben sie. Nur die Schlange hörte und die große Eidechse und der Mulattenbaum. Die, welche gehört hatten, wechseln die Haut. Wir aber sterben. Mana hörte schlecht, deshalb sterben wir. Vorher, wenn wir starben, verwandelten wir hier unsere Seelen. Wenn wir als Greise starben, verwandelten wir uns hier wiederum in Knaben. Wenn alte Weiber starben, verwandelten sie sich wieder in junge Mädchen. So machten wir es, wenn wir starben. Aber Mana hörte schlecht, deshalb sterben wir und kehren nicht mehr zurück.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 229-232.
Lizenz:
Kategorien: