[256] 92. Wie die Wespe die Aasgeier betrog

[256] Meine Leute hatten Jagdbeute gemacht und waren dabei, sie zu zerlegen. Da kam die Wespe, kniff ein Kügelchen Fleisch ab und tat es in ihren kleinen Mund, um die Aasgeier zu betrügen. Dann flog sie weg in den Himmel.

Sie begegnete dem Aasgeier und sprach: »Aasgeier, hast du Hunger?«

»Ich habe Hunger,« erwiderte er.

Da sagte die Wespe: »Dort ist Fleisch im Überfluß. Geh und rufe deine Leute, damit sie davon essen!«

Der Aasgeier ging weg und sagte es zunächst dem Königsgeier. Dieser kam, trat zu der Wespe und fragte sie: »Wo ist denn so viel Fleisch?«

»Dort unten ist Fleisch im Überfluß,« erwiderte sie.

Da freute sich der Königsgeier, und er befahl dem Aasgeier, seine Leute zusammenzurufen.


92. Wie die Wespe die Aasgeier betrog

Dieser ging zu ihnen hin und sprach: »Aasgeier, der Königsgeier ruft euch!« Da versammelten sich viele Aasgeier und gingen hin. Der Königsgeier stellte sich vor die Wespe und sprach: »Wespe, du bist ein großer Lügner!« »Ich lüge nicht,« erwiderte diese, »sieh her, wie ich Fleisch erbreche!« Die Wespe erbrach sich, und viel Fleisch fiel heraus. Da freuten sich alle Aasgeier, und auch der Königsgeier freute sich. Die Wespe aber machte sich davon.


92. Wie die Wespe die Aasgeier betrog

Alle Aasgeier gingen nun weg, um Fleisch zu suchen, aber sie fanden keins. Da kam einer zum Königsgeier und sagte zu ihm: »Wir haben kein Fleisch gefunden.« Der Königsgeier wurde ärgerlich und sprach: »Du bist ein großer Faulenzer!« Er wollte den Aasgeier schlagen, aber dieser schrie und lief davon.[257]


92. Wie die Wespe die Aasgeier betrog

Der Königsgeier lief hinter ihm her und rief: »Geh und suche Fleisch!« Der Aasgeier ging hin, suchte Fleisch, fand aber keins und wurde ärgerlich. Er rief seine Leute zusammen, und sie meldeten es dem Königsgeier.

Der Königsgeier schickte einen anderen Aasgeier. Dieser suchte die Wespe, fand sie und sprach zu ihr: »Du bist wirklich ein großer Lügner!« Da wurde die Wespe sehr zornig und wollte den Aasgeier beißen. Auch der Aasgeier wurde zornig und wollte die Wespe töten. Diese sagte zu ihm: »Du bist ein großer Dummkopf!«

Der Aasgeier wollte die Wespe töten. Da wurde sie wütend und biß ihn in den Kopf. Der Aasgeier schrie und lief davon. Da sprach die Wespe zu ihm: »Bist du denn wirklich so tapfer? Dann komm und töte mich! Dein Kopf hat ja nur Haut; dein Haar sproßt nicht; schau! Ich beiße dich noch einmal in deine Glatze.«

Der Aasgeier fürchtete sich, lief weg und sagte zu dem Königsgeier: »Die Wespe ist sehr tapfer; sie hat mich in den Kopf gebissen!« Da machte ihm der Königsgeier mit einem Mittel den Kopf wieder heil.

Der Aasgeier war zornig auf die Wespe und sagte zum Königsgeier: »Königsgeier, ich werde die Wespe töten!«

Dieser aber sprach zu ihm: »Du bildest dir ein, tapfer zu sein. Die Wespe aber fürchtet sich nicht. Sie ist sehr tapfer. Sie wird dich noch einmal in die Glatze beißen.«

Der Aasgeier ging hin, erblickte die Wespe und sprach: »Bist du wirklich so tapfer? So beiße mich!«

Die Wespe kam und biß den Aasgeier in den Kopf.

Der Aasgeier schrie und wollte die Wespe fressen, doch sie biß ihn abermals in den Kopf. Da fürchtete sich der Aasgeier. Er machte sich davon und kam nicht wieder.

So machte es die Wespe, um die Aasgeier zu betrügen.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 256-258.
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