9. Das Märchen vom Fuchs und dem Tiger.

[40] Es war einmal ein Tiger, der hatte einen Fuchs zum Neffen. Der Fuchs hatte auch eine Schwester. Fuchs und Tiger gerieten einmal in Streit. Da zog der Tiger aus, um den Fuchs zu töten. Dieser aber ging zu einer Eiche, und dort im Schatten beschäftigte er sich damit, Riemen zu schneiden.

So sah ihn der Tiger.

»Was machst du da, Fuchs?« fragte der Tiger.

»Ich schneide Riemen; die ganze Welt wird nächstens auf den Kopf gestellt. Deshalb will ich mich an diese Eiche anbinden; die wird nicht auf dem Kopf stehen,« sagte der Fuchs.

»Ei, ganz Recht, sagte der Tiger; dann bind mich auch an.« »Gut; dann will ich dich zuerst anbinden,« antwortete der Fuchs. »Du musst diesen Eichbaum umarmen.«

Da stellte sich der Tiger hin und umarmte die Eiche, und so wurde er angebunden und ganz fest geschnürt.

»Schnür mich nicht so fest!« sagte der Tiger.

Als er nun ordentlich festgebunden war, ging der Fuchs hin und suchte eine Gerte und dann prügelte er den Tiger tüchtig durch.

»Hau mich doch nicht so, Neffe Fuchs,« sagte der Tiger.

»Warum hast du mich töten wollen, böser Tiger!« antwortete der Fuchs und prügelte ihn beinahe zu Tode. Dann ging er ganz weit weg in eine andere Gegend.

Eine Weile darauf wurde der Tiger gesucht. Die Schwester des Fuchses erblickte ihn. Er war beinahe tot. Als die Nichte ihn sah, da weinte sie über ihren Onkel und band ihn los. Als der Tiger los war, sagte er zu der Schwester des Fuchses: »Jetzt werde ich dich sogleich töten.« »Warum willst du mich töten, Onkel?« sagte die Schwester des Fuchses. »Ich will gleich den Fuchs suchen,« sagte sie.

Da wurde nach dem Fuchs gesucht. Der Tiger fand ihn beim Binsenseil machen.

»Was machst du da, Fuchs? Jetzt hat dein Stündlein geschlagen; du musst heute noch sterben. Gar zu arg hast du[41] mich mishandelt, du verfluchter Kerl,« sagte der Tiger. »Wozu machst du die Binsenstricke?«

»Wozu sagst du mir solche Dinge, Onkel. Wir werden ja doch bald alle umkommen,« antwortete der Fuchs.

»Was ist denn los?« fragte der Tiger.

»Wir werden alle umkommen, Onkel. Alle Menschen werden nach oben in die Luft steigen. Da sind schon welche oben,« sagte der Fuchs.

Da schaute der Tiger nach oben. »Wo?« sagte er.

»Ei dort sind sie ja; sieh nur genau hin,« antwortete der Fuchs. Als nun der Tiger ganz genau nach oben sah, machte sich der Fuchs eilends davon. Er war schon eine ganze Strecke weit weg, als der Tiger wieder nach unten sah. »Da ist ja gar nichts,« sagte er zum Fuchs, aber da sah er keinen Fuchs mehr. »Na, das sollst du mir büssen, böser Fuchs,« sagte der Tiger.

Abermals traf er die Schwester des Fuchses.

»Jetzt werde ich dich auf der Stelle töten,« sagte er zu ihr.

»Warum willst du mich töten?« sagte die Füchsin. »Wir wollen ihm zusammen auflauern.«

Da lauerten sie dem Fuchs auf und abermals erblickten sie ihn; ganz von weiten sahen sie ihn.

»Da kommt ja der Fuchs schon, Onkel,« sagte die Füchsin.

»Was sollen wir ihm jetzt für eine Falle stellen?« sagte er.

»Du musst dich sofort tot stellen,« sagte die Füchsin.

Da stellte der Tiger sich tot und die Füchsin fing an laut zu weinen.

»Was machst du denn da, Schwesterchen; weinst du?« sagte der Fuchs. »Ach, unser Onkel ist ja gestorben, du arger Dummkopf!« antwortete die Füchsin. »Nun ja, recht so; er mag ja gestorben sein. Aber wenn unsere Vorfahren starben, dann furzten sie viermal ganz laut,« sagte der Fuchs und blieb ganz von weitem stehen.

Die Füchsin sagte zum Tiger: »Furz nur zu, Onkel!« Da furzte er.

»Oho!« sagte der Fuchs. »Tote können doch niemals furzen; davon habe ich mein' Lebtage noch nichts gehört und bin schon so alt geworden.« Damit lief er eilends davon.[42]

Da sagte der Tiger zur Füchsin: »Na, jetzt mach ich dich aber auf der Stelle tot!« – »Ach töte mich nicht, antwortete die Füchsin; ich weiss, wo er zur Tränke geht; dort wollen wir ihm auflauern.« – »Gut,« sagte der Tiger. Da zeigte sie ihm das Wasser und er lauerte dem Fuchs auf.

Um Mittag näherte sich der Fuchs dem Wasser. Aber er schöpfte Verdacht und blieb in ziemlicher Entfernung stehen und rief: »Mein Wasser spricht immer zu mir, wenn es will, dass ich trinken soll.« Also: »Ich will dich trinken, Wasser!« sagte der Fuchs. Wenn ich das viermal zu meinem Wasser sage, so antwortet es mir: »Komm doch, und trink mich!«

Da rief er denn: »Ich will dich trinken, Wasser! – Ich will dich trinken, Wasser! – Ich will dich trinken, Wasser!« Das Wasser antwortete nicht.

»Sollte das Wasser etwa nicht wollen, dass ich es trinke?« sagte der Fuchs und rief abermals: »Ich will dich trinken, Wasser!«

Da antwortete das Wasser: »Komm doch und trink mich!«

»Oho!« sagte der Fuchs, »Wasser kann doch nicht sprechen; das hab' ich mein Lebtage nicht gehört,« und machte sich eilends von dannen.

Da kam der Tiger aus seinem Versteck hervor; und abermals traf er die Füchsin.

»Jetzt mach' ich dich aber gleich tot, sagte der Tiger zur Füchsin. Ich habe deinen Bruder nicht erwischt.«

»Warum willst du mich töten, Onkel?« antwortete sie. »Willst du nicht Windhunde holen? Ich weiss, wo der Fuchs seine Pferde zähmt,« sagte die Füchsin.

Sie holten vier Windhunde und stellten dem Fuchs nach. Auf einer Weide fanden sie ihn. Die Windhunde wurden als Wachen aufgestellt, um ihn zu töten. Dann ging der Tiger selbst auf ihn zu und sagte: »Guten Tag, Fuchs.«

Da nahm sich der Fuchs ordentlich zusammen und rannte eilends davon. An drei Windhunden kam er vorüber, aber der vierte holte ihn ein. So kam der Fuchs um's Leben.

Quelle:
Lenz, Rudolf: Aurakanische Märchen und Erzählungen. Valparaiso: Universo de Guillermo Helfmann, 1896, S. 40-43.
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