Die Macht der Musik.[53] 31

Vor 900 Jahren lebte in Japan ein ungewöhnlich starker, aber auch roher und gewaltthätiger Mann mit Namen Hakamadare. Zum Arbeiten war er zu faul und so geriet er auf böse Wege, er drang in fremde Häuser ein, erpresste Geld von den Leuten und was er so erbeutet hatte, vertrank er in Sake (Reisbranntwein). Gab man ihm auf sein Ansinnen nichts, dann geriet er in Wut und zertrümmerte die Möbel und alle Gegenstände, die ihm unter die Hände kamen; wehren konnte ihm dieses niemand, denn Hakamadare war zu stark und als gewandter Fechter bekannt.

Es war nun einmal ein kühler Herbstabend, und Hakamadare, der kein warmes Kimono (Kleid) besass, konnte vor Kälte nicht schlafen. Schnell stand er auf und ging auf Beute aus, um irgendwo einen warmen Rock zu erbeuten; da es aber schon spät war, fand er alle Häuser verschlossen, so dass er hier auf seine gewohnte Weise nichts rauben konnte. Missmutig und murrend zog er ab, als er plötzlich vor sich eine im Mondscheine dahinwandelnde Gestalt erblickte, welche vergnügt auf der Flöte spielte. Das Kleid, welches der Flötenspieler trug, schimmerte wie die herrlichste Seide, und vor sich hinlächelnd, freute Hakamadare sich bereits über die unerwartete Beute, die ihm zufallen musste.

Eilenden Schrittes folgte er dem Flötenspieler, um ihn zu fassen und ihm sein Seidenkleid auszuziehen. Jener aber spielte ruhig und vergnügt weiter, als ob er von dem Feinde, der ihm folgte, nichts gemerkt hätte. Die Töne, die er im sanften Mondscheine seinem Instrumente entlockte, klangen bald kräftig und laut, bald sanft und zart über Berge und Hügel hin, und es war, als ob die ganze Natur sich daran erfreute. Auch auf den Räuber, der hinter dem[53] Flötenspieler herschlich, wirkten sie mächtig ein, und ergriffen und begeistert von den lieblichen Melodieen schlich Hakamadare, seinen räuberischen Zweck vergessend, hinter dem Manne her. Dann aber raffte er sich wieder auf, zog sein Schwert und holte zum Streiche gegen den Flötenspieler aus Da aber drehte dieser sich eben so schnell um, schaute den Verfolger an und rief ihm mit mächtiger Stimme zu: »Wer bist du?« So aber wirkte der Zuruf auf Hakamadare, dass seine Muskeln plötzlich erlahmten, er warf sein Schwert von sich und als jener zum zweiten Male fragte: »Wer bist du?« antwortete er mit zitternder Stimme: »Ich bin Hakamadare.«

»Öfter schon habe ich deinen Namen nennen hören,« sprach nun der Flötenspieler, »komm und folge mir in mein Haus.« Damit begann er wiederum auf seiner Flöte zu spielen und, von den Zaubertönen derselben gelockt, musste Hakamadare jenem folgen, er mochte wollen oder nicht; es war so, als ob ein Riese ein kleines Kind gefesselt hatte. Entsetzt und voller Schrecken gelangte so der Räuber bis vor die Thür des Flötenspielers, gern wäre er umgekehrt, allein er konnte nicht. Und voller Staunen erkannte er nun, dass er zum Hause seines älteren Bruders Taira no Yasumasa geführt worden war, der damals als der einflussreichste Hofbeamte und vortrefflicher Flötenspieler galt.

Als Hakamadare in des Bruders Zimmer getreten war, überreichte ihm dieser ein schönes neues Kimono und sprach: »Bedarfst du wieder eines Kleides, so komm zu mir und du sollst es haben. Doch ich warne dich, Fremden die Kleider auszuziehen und sie so zu berauben.«

Mächtig wirkten die entschieden aber sanft gesprochenen Worte des Bruders auf den Räuber ein, der in sich ging und von da ab wieder ein ordentlicher Mensch wurde.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 53-54.
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