I.
Belohnte Kindesliebe.

[55] Yung Chong Tah Wang war ein sehr weiser König. Er wusste für seine Person ganz genau, was in Korea oder Choson (160 Jahre früher) vorging, denn er pflegte verkleidet in der Stadt umher zu wandern und auf die Gespräche der Leute zu lauschen.33

Eines Nachts, als er an einer Hütte von elendem Aussehen vorüber kam, die am Fuss des Nam San (Südberges) gelegen war, erblickte er den Schatten des geschorenen Hauptes einer Priesterin an dem erleuchteten Papierfenster. Sehr überrascht, dass ein Weib mit einer Tonsur, eine Priesterin, so kühn sein sollte, die Gesetze zu verletzen und die Stadt zu betreten34, benetzte er seinen Finger, machte ein kleines Loch in das Papierfenster35, blickte hinein und sah, wie eine Nonne tanzte, ein junger Leidtragender sang und eine alte Frau, die vor einem gedeckten Tischchen sass, weinte.

Der verkleidete König klopfte darauf an die Thür und der junge Mann in Trauerkleidern liess ihn in einen Vorraum eintreten. Höflich bat der König um Licht, indem[55] er erzählte, dass er nahe am Schlosse wohne, in diesem Stadtteil ein Geschäft gehabt habe und dass der Wind ihm seine Laterne ausgeblasen. Da er den Lichtschein am Fenster gesehen habe, sei er eingetreten, um Licht zu bitten. Der Jüngling zündete die Laterne des Fremden wieder an. Indessen hatte jener einige Handschriften aufgenommen und frug, von wem die Gedichte, die sie enthielten, herrührten, da sie ungewöhnlich gut waren.

»Sie sind meine eigene bescheidene Arbeit,« erwiderte der Jüngling. »Deine eigene?« rief der König. »Wenn Du dich so gut darauf verstehst, warum meldest du dich nicht zu einem Examen, um Bang und Stellung zu erhalten?« »Ich möchte es sehr gern thun, aber Federn und Papier kosten Geld, das ich nicht erübrigen kann. Alles was ich verdiene und mehr brauche ich für den Unterhalt meiner Mutter,« sprach der Leidtragende.

»Nun,« bemerkte der König, »übermorgen wird ein Examen abgehalten werden, und da ich gerade 500 cash bei mir habe, so will ich sie dir leihen, wenn du mir versprichst, hinzugehen und dich prüfen zu lassen.«

»Ich wusste nicht, dass so bald ein Examen stattfinden würde; aber ich nehme gern dein gütiges Anerbieten an und werde mich bestreben, mein bestes zu thun, obwohl ich glaube, wir thäten besser, das Geld für Essen und Trinken aufzuwenden, denn wir sterben fast Hungers.« Damit nahm er das Geld.

»Was bedeutet das«? frug nun der Besucher. »Ich muss gestehen, dass ich beim Vorbeigehen durch ein kleines Loch im Papierfenster in euer Haus geblickt. Da sah ich einen gedeckten Tisch, vor dem eine alte Frau sass, welche zu weinen schien, während du, ein Leidtragender, sangst und – das Sonderbarste von allem – ein Weib mit einer Tonsur, das doch die Stadt nicht betreten darf, sich am Tanz belustigte. Kannst du mir eine Erklärung für dieses sonderbare Gebahren geben?«

»Jawohl,« erwiderte er traurig. »Vor sechs Jahren ist[56] mein Vater gestorben. Die Trauerkleider trage ich immer noch, obwohl die drei Jahre36 schon zweimal vorbei sind, weil ich kein Geld habe, um andere zu kaufen. Wir sind sehr arm geworden und haben alles verkaufen müssen. Schliesslich hatte meine Mutter nichts mehr zu essen. Daher schnitt meine Schwester ihr Haar ab, verkaufte es, und kaufte dafür die Mahlzeit, die du siehst. Meine Mutter aber war so traurig, dass sie nicht zu essen vermochte, deshalb versuchten wir, obwohl selbst hungrig, sie aufzuheitern und zum essen zu bewegen.«

Diese Erzählung machte auf den König einen tiefen Eindruck. Er gab dem Jüngling noch eine weitere Summe für die augenblicklichen Bedürfnisse und damit er sich ärmliche aber anständige Kleider kaufen könnte. Dann ging er fort, nachdem er sich nochmals hatte versprechen lassen, dass der junge Mann bestimmt der Prüfung beiwohnen würde. Im Schlosse angekommen, befahl er sogleich eine Prüfung anzuordnen, was denn auch geschah.

Als die Kandidaten auf dem Platze hinter dem Schloss, wo die Prüfung abgehalten wurde, sich versammelt hatten, wurde ihnen eine Liste von Themata vorgelegt, worüber sie Gedichte machen sollten. Diese lauteten: Ein Leidtragender singt; Eine Nonne tanzt; Eine alte Frau weint.

Alle waren in Verlegenheit mit Ausnahme des Mannes, dessen Geschichte es war. Dieses Thema fand sich in keinem der Bücher, die sie kannten, und was sie darüber dichteten, machte ihnen schwere Mühe und fiel doch ziemlich kläglich aus. Der Jüngling aber kannte die Geschichte; voller Verwunderung machte er sich an die Arbeit, und hatte bald die ganze Geschichte in zierliche Verse gebracht.

Er rollte sein Manuskript zusammen und warf es hinüber in den abgesperrten Raum. Sogleich brachte man es dem Könige. Dieser erkannte sofort die Sache, den Stil und den Namen und gab der Arbeit die beste Note. Kurz darauf erhielt der Jüngling Rang und Amt und machte[57] eine schnelle Karriere, so dass er bald in der Lage war, seiner Mutter ein behagliches und glückliches Los zu bereiten, wie auch seine Schwester an einen braven und reichen Mann zu verheiraten.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 55-58.
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